Die Goethe-Schreibmaschine
Geschrieben am 15.08.2023 von HNF
Am 15. August 1903 begann die Union Schreibmaschinen-Gesellschaft in Berlin mit dem Vertrieb der Mignon. Mit ihr kam ein Schreibgerät in den Handel, das sich radikal von den Modellen mit Typenhebeln unterschied. Von der Mignon entstanden mehr als 360.000 Stück. Sie blieb dreißig Jahre lang auf dem Markt. Ihr Hersteller wurde zu den bekannten Olympia-Werken.
Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn? So beginnt ein sehr populäres Gedicht, das den Titel „Mignon“ trägt – das Wort ist ein weiblicher Vorname. Das Poem drückt die deutsche Sehnsucht nach Italien aus, sein Urheber Johann Wolfgang von Goethe brachte es 1782 oder 1783 zu Papier. 1786 fuhr er selbst nach Italien und blieb bis 1788.
Mignon hieß ebenso ein Schreibgerät, das vor 120 Jahren herauskam. Es gehörte zu den Zeigerschreibmaschinen, bei denen man die Zeichen nacheinander und mit einer simplen Mechanik auswählt. Gebräuchlich war auch die Bezeichnung Eintaster-Maschine; Engländer und Amerikaner sagten „index typewriter“. Solche Geräte kosteten weniger als Maschinen mit Typenhebeln, sie schrieben allerdings langsamer. Nach dem Zweiten Weltkrieg starben sie aus, zuletzt fand man sie nur noch in Spielzeugläden.
Hersteller der Mignon war die Union Schreibmaschinen-Gesellschaft in Berlin. Sie wurde am 31. Juli 1903 als Tochterfirma der AEG gegründet, am 15. August des Jahres startete sie mit der Vermarktung des Geräts. Sein Erfinder hieß Louis Sell. Er kam 1865 in Tilsit zur Welt und studierte Mathematik, Physik und Philosophie in Königsberg; im letzteren Fach erwarb er den Doktorgrad. Sein Geld verdiente er als Patentanwalt in Berlin. Am 22. Dezember 1901 meldete er eine Typenzylinderschreibmaschine ohne Tastatur zum Patent an, am 10. März 1904 wurde es unter Nummer 149.308 erteilt.
Damals gab es schon Schreibmaschinen ohne Typenhebel. Das Model 5 des Amerikaners George Blickensderfer vereinte die Zeichen auf einem Rad. Seine Maschinen wiesen eine Tastatur auf, die der Erfindung von Louis Sell fehlte. Hier führte man mit der linken Hand einen Zeiger über eine Platte mit Buchstaben, Ziffern und Sonderzeichen. Eine Mechanik übertrug die Bewegung auf einen dreh- und verschiebbaren Typenzylinder, den man durch Drücken einer Taste mit der rechten Hand auf Farbband und Papierwalze presste.
Das Patent erregte das Interesse des Berliner Elektrokonzerns AEG, der für die Fertigung und den Verkauf die erwähnte Union Schreibmaschinen-Gesellschaft gründete. Dabei wirkte der Ingenieur und ehemalige Siemens-Manager Friedrich von Hefner-Alteneck mit. Er saß im AEG-Aufsichtsrat, sein Name steht auf dem amerikanischen Patent für Sells Schreibgerät. Dieses erhielt den Namen Mignon, und 1903/1904 wurden fünfzig Stück hergestellt. Von der ersten Mignon-Generation überlebte wohl nur das Exemplar im Stadtmuseum Erfurt.
Als nächstes erschien das Modell Mignon 2, das im Eingangsbild zu sehen ist. Anzeigen nannten einen Preis von hundert Mark; bis 1906 verkaufte die Union Schreibmaschinen-Gesellschaft zweitausend Maschinen. 1913 folgte die Mignon 3. 1914 waren von allen Typen rund 50.000 Maschinen abgesetzt – wir gehen dabei nach den Seriennummern. Die vierte Generation lag 1924 vor. 1933 löste die Olympia Plurotyp die Mignon 4 ab, ihre Fertigung endete aber schon 1934. Insgesamt wurden 363.000 Mignons produziert.
Ab und zu wechselte der Name des Herstellers, ab dem 31. Dezember 1936 hieß er Olympia-Büromaschinenwerke AG. Nach 1945 wurden daraus das Optima Büromaschinenwerk Erfurt und die Olympia-Werke in Roffhausen bei Wilhelmshaven. Ein zweiter Standort war Leer in Ostfriesland, außerdem übernahm Olympia den Rechenmaschinenbauer Brunsviga. Die Firma entwickelte sich zu einem weltweit bekannten Bürotechnik-Unternehmen, doch 1992 kam das Ende. Heute gibt es nur die Erinnerung, Exponate in Museen und einen Beitrag der Retro-Mediathek.
Wir schließen, wie wir begannen, mit Poesie. 1993 verfasste die Sozialforscherin Regina Buhr einen Aufsatz zur Olympia-Geschichte. Auf PDF-Seite 36 bringt er zwei Hymnen zur Schreibmaschine Mignon aus dem Jahr 1931. Wir beschränken uns auf eine Strophe: „Ma chère amie, die Mignon / Ging mit die ganze Zeit. / Drum werd ich ihr auch schaffen / Einen Platz in der Ewigkeit.“ Und welcher Platz wäre dazu besser geeignet als der HNF-Blog!