Gigantische Gehirne, kalkulierende Instrumente
Geschrieben am 25.06.2019 von HNF
„Giant Brains“ und „Calculating Instruments and Machines“ waren Sachbücher, die im Jahr 1949 erschienen. Sie erläuterten zum ersten Mal einem breiteren Publikum den Computer. Die riesigen Gehirne beschrieb der amerikanische Mathematiker Edmund Berkeley; die Rechengeräte und -maschinen schilderte der englische Physiker Douglas Hartree. Während Hartree der Analogtechnik viel Platz schenkte, hob Berkeley digitale Systeme hervor.
„This book is intended for eveyone“ – dieses Buch ist für jeden gedacht. Der Satz steht im Vorwort von „Giant Brains, or Machines That Think“; geschrieben wurde er am 30. Juni 1949, in New York. Den Leser erreichten die Riesenhirne gegen Jahresende, die New York Times besprach sie am 11. Dezember 1949. Das Thema des Buchs war natürlich der Computer. Es zeigt uns heute, wie früh die neue Technik unters Volk gebracht wurde.
Der Autor des Werks hieß Edmund Berkeley. Er war eigentlich Mathematiker. 1909 in New York geboren, studierte er das Fach in Harvard; danach arbeitete er lange im Versicherungswesen. Im Zweiten Weltkrieg kam er als Reservist mit dem Computerpionier Howard Aiken in Kontakt und wirkte beim Bau seines Relaisrechner Harvard Mark II mit. Später hatte er dienstlich mit den ENIAC-Konstrukteuren John Presper Eckert und John Mauchly zu tun. Im Juli 1948 räumte Berkeley wegen allzu pazifistischer Ansichten sein Büro. Er wurde freier Schriftsteller.
Berkeley konnte flott schreiben und komplizierte Sachverhalte erklären. „Giant Brains“ wurde nie ins Deutsche übersetzt, doch die Originalfassung lässt sich leicht lesen. Sie beginnt mit einem Blick auf menschliche Gehirnzellen und sagt anschließend, was ein mechanisches Hirn ist. Es besteht aus Eingabe, Ausgabe, Speicher, Steuerwerk und „Computer“ – so nannte Berkeley das Rechenwerk. Im zweiten Kapitel führte Berkeley Dualzahlen sowie Relais und Elektronenröhren ein. Kapitel 3 schildert den Relaisrechner Simon, den der Autor höchstpersönlich entwarf.
Die folgenden Abschnitte widmen sich Lochkartenmaschinen, Analogrechnern und dem 1944 fertiggestellten Relaiscomputer Harvard Mark I, auch bekannt als IBM ASSC: Berkeley kannte ihn aus seiner Militärzeit. In Kapitel 7 treffen wir das berühmte Elektronengehirn ENIAC. Gleich danach kommt wieder ein Relaisrechner, das Model V der Bell-Laboratorien. Kapitel 9 behandelt die elektrische Logikmaschine von Theodore Kalin und William Burkhart. Das 1947 gebaute Gerät berechnete Wahrheitstafeln der Aussagenlogik.
Im darauffolgenden Abschnitt skizzierte Berkeley den Relaisrechner Harvard Mark II, den in New York installierten IBM-Computer SSEC und den in der Entwicklung befindlichen BINAC von Eckert und Mauchly. Nach zwei weiteren Kapiteln mit Zukunftsvisionen sowie zwei Anhängen zur Sprache und zur Mathematik endet das Buch mit einer langen Literaturliste. Sie dürfte die beste Quellensammlung aus den Anfängen des Computerzeitalters sein; selbst Konrad Zuse wird nicht vergessen.
Das folgende Buch steht dort allerdings nicht, denn es erschien parallel zu den „Giant Brains“ im Jahr 1949: „Calculating Instruments and Machines“ Der Verfasser Douglas Hartree schrieb sein Vorwort im Mai 1949; vielleicht kam das Werk im Herbst heraus. Es führt in die damalige Informatik ein, ist aber etwas anspruchsvoller als die Gehirne von Berkeley; hier kann man es lesen. Es basiert auf Vorlesungen, die Hartree im Wintersemester 1948/49 in der Universität von Illinois in Urbana hielt.
Hartree war Engländer und Jahrgang 1897. Er studierte in seinem Geburtsort Cambridge Mathematik und Physik und spezialisierte sich auf die mathematischen Methoden der Quantentheorie. Ab 1929 lehrte er in Manchester; im Blog haben wir ihn schon als Schöpfer eines Baukasten-Rechners kennengelernt. 1946 erhielt er eine Professur in Cambridge. Seine Antrittsvorlesung trug den Titel „Calculating Machines“; sie ging vor allem auf den ENIAC ein. Hartree hatte diesen bereits 1945 besichtigt, als er noch im Bau war.
Das Buch „Calculating Instruments and Machines“ bringt je drei Kapitel über analoge und digitale Rechenanlagen, darunter eines über Charles Babbage. Der Stand der Technik entspricht den „Giant Brains“. Zwei weitere Kapitel behandeln elektronische Schaltungen und den Einsatz von Elektronengehirnen in der Mathematik. Wie Berkeley hielt sich Hartree beim Gebrauch des Wortes „computer“ zurück; er reservierte es für rechnende Menschen. Im Stichwortverzeichnis finden wir außerdem den „computor“ mit O.
Trotz dieses Ausrutschers ist das Buch eine Pioniertat der wissenschaftlichen Publizistik; das Gleiche gilt für die „Giant Brains“. Edmund Berkeley produzierte noch neun weitere Bücher, erfand ein Computer-Spielzeug und gründete eine Computerzeitschrift. Er starb 1988. Douglas Hartree verfasste in den 1950er-Jahren zwei Monographien zur Physik. 1958 erlitt er ein tödliches Herzversagen. Die ersten populären Computerbücher in deutscher Sprache erschienen 1952. Wir haben sie 2017 in unserem Blog vorgestellt.
Sie schreiben „… ‚computor‘ mit O. Trotz dieses Ausrutschers …“
Ich halte es nicht für einen Ausrutscher.
Noch während meiner Ausbildung (1969-1971) in Berlin-Wannsee lernte ich die Schreibweise mit „O“. Offenbar hat sich diese Unterscheidung der Bezeichnung für Menschen oder Maschinen aber nicht durchsetzen können. Ich hielt es damals für einen Unterschied zwischen „British English“ und „American English“. Damals wusste ich allerdings noch nicht, dass die Bezeichnung „computer“ in der englischen Sprache schon lange vor der Einführung der rechnenden Maschinen für rechnende Menschen gebraucht wurde. Das habe ich erst in diesem Jahrtausend gelernt, als ich Führungsinhalte für das Computermuseum Kiel ausgearbeitet habe.