Stanisław Lem – Phantome und Phantasien

Geschrieben am 10.09.2021 von

Der vor hundert Jahren im damals polnischen Lemberg geborene Stanisław Lem war Literat, Philosoph und Zukunftsforscher; er zählte zu den besten Science-Fiction-Autoren der Welt. Besonders interessierten ihn Roboter, Computer und alle Aspekte der virtuellen Realität. Sein bekanntestes Werk ist der 1961 erschienene Roman „Solaris“. Später entwickelte sich Stanisław Lem zu einem harten Kritiker des Internets.

Zur Welt kam Stanisław Lem am 13. September 1921 als Sohn eines Arztes. Die Eltern glaubten, dass die Dreizehn Unglück brächte, und gaben deshalb den 12. September als Geburtsdatum an. Der Geburtsort war Lwów im südöstlichen Polen. Als die Stadt noch zu Österreich-Ungarn gehörte, hieß sie Lemberg, heute liegt sie in der Ukraine und trägt den Namen Lwiw.

Lem hatte eine behütete Kindheit; als junger Mann erlebte er die sowjetische Okkupation von 1939 bis 1941 und anschließend die deutsche Besatzung. Er überstand sie mit falschen Papieren und als Mechaniker. 1944 wurde Lwów wieder sowjetisch; 1945 zog die Familie ins polnische Krakau. Dort studierte Stanisław Lem Medizin. Er erhielt keinen Doktortitel. Der Grund dafür war seine Ablehnung des Lyssenkoismus, einer von Stalin geförderten und auch für Polen verbindlichen biologischen Irrlehre.

Zum Glück wurde sein schriftstellerisches Talent erkannt, und er begann eine Karriere als Science-Fiction-Autor. In den 1950er-Jahren erschienen die Raumfahrt-Utopien Der Planet des Todes – gemeint ist die Venus – und Gast im Weltraum, die satirischen Sterntagebücher und Eden. Mit dem Tagebuch-Schreiber Ijon Tichy führte Lem seinen populärsten Helden ein. In den Romanen finden wir computerähnliche Maschinen, und „Gast im Weltraum“ enthält ein antikapitalistisches „Märchen von Turing“. Lem hat sich später vom Buch distanziert. 1957 befasste er sich in Dialogen mit der neuen Wissenschaft der Kybernetik.

Italienisches Plakat zum Lem-Film „Solaris“

1961 vollendete Lem sein wohl bekanntestes Werk Solaris. In einer Forschungsstation auf einem fernen Planeten tauchen gespenstische Figuren auf; sie bestehen aus Neutrinos und werden vom intelligenten Ozean des Planeten erzeugt. Den nächsten Schritt zur Virtualität vollzog Lem 1964 im philosophischen Essayband Summa Technologiae. Neben Künstlicher Intelligenz, die er Intellektonik nannte, schilderte er die Phantomatik; hier täuschen elektronisch zugeführte Sinnesdaten dem menschlichen Hirn eine fiktive Umwelt vor.

Damit schuf Stanisław Lem mit dem amerikanischen Science-Fiction-Autor Daniel Galouye – seine Welt am Draht erschien ebenfalls 1964 – die Matrix, das simulierte Universum. Eine pharmazeutische Phantomatik treffen wir 1971 im Roman Der futurologische Kongress. Im gleichen Jahr veröffentlichte Lem auch „Die vollkommene Leere“, eine Sammlung fiktiver Buchbesprechungen; 1973 folgte eine in gleicher Weise erfundene Kollektion von Vorworten, „Imaginäre Größe“. Eine Lem-Kurzgeschichte inspirierte den amerikanischen Entwickler Will Wright 1989 zum allerersten Sim-Spiel.

In den 1960er-Jahren erschienen die Technikutopie „Transfer“, der Raumfahrtroman „Der Unbesiegbare“ und „Die Stimme des Herrn“ über mysteriöse außerirdische Funksignale. Die Robotermärchen und die Kyberiade brachten oft skurrile Geschichten zur Informatik. 1968 kamen die Abenteuer des Piloten Pirx, Lems zweiten Serien-Helden, sowie die voluminöse literaturwissenschaftliche Arbeit „Die Philosophie des Zufalls“. 1970 lag in zwei Bänden die Science-Fiction-Analyse „Phantastik und Futurologie“ vor.

Stanisław Lem im Jahr 1966 (Foto Wojciech Zemek CC BY-SA 3.0)

Schon in den Fünfzigern wurden Werke von Stanisław Lem ins Deutsche übersetzt, jedoch nur für Leser in der DDR. In der Bundesrepublik war 1961 „Der Planet des Todes“ in zwei Romanheften erhältlich; Lem-Bücher konnte man ab 1972 kaufen. In jenem Jahr lief der „Solaris“-Film des russischen Regisseurs Andrei Tarkowski in der UdSSR an. DDR-Kinos zeigten ihn 1974, bundesdeutsche drei Jahre später. Mittlerweile hatte Lem viele Fans im Westen und unternahm Vortragsreisen. Der Blogger erlebte ihn 1980 live in Bonn.

In den 1980er-Jahren wohnte Stanisław Lem mit der Familie in West-Berlin und in Wien. 1986 schuf er seinen letzten Science-Fiction-Roman, Fiasko. 1988 kehrte er nach Polen zurück. Er verfasste viele kritische Artikel über Hightech, Mikrocomputer und digitale Netzwerke; zwei Sammlungen tragen die Titel Die Technologiefalle und Die Megbit-Bombe. Texte aus jener Zeit sind ebenso online. 1996 sah Lem recht genau die Zukunft des Internets voraus. Ein von tiefem Pessimismus geprägtes Interview gab er kurz vor seinem Tode.

Stanisław Lem starb am 27. März 2006 in Krakau. YouTube bietet eine Dokumentation zu ihm und auch Andrei Tarkowskis Solaris an. Hier ist Lems offizielle Internetseite und hier der Instagram-Kanal. Im Lem-Jahr 2021 erschienen bei uns eine neue Biografie und ein Buch seines Sohnes Tomasz; wer sich beim Internet-Archiv anmeldet, kann „Solaris“ auf Englisch lesen. Unsere Lem-Bibliographie ist natürlich unvollständig, so fehlen die Krimis und die autobiografischen Romane; eine genauere Titelliste findet sich hier. Unser Eingangsbild (Foto Aleksander Jalosinski/agencja FORUM/Alamy Stock Foto) entstand 1975 in Krakau.

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