Wer die Wahl hat…
Geschrieben am 09.05.2017 von HNF
Am Sonntag wählen die Bürger Nordrhein-Westfalens den nächsten Landtag. Abends strahlt das Fernsehen wie gewohnt Hochrechnungen aus; ähnlich wird es später im Jahr bei der Bundestagswahl sein. Am 19. September 1965 erschien die erste deutsche Hochrechnung. Seit der NRW-Wahl 1966 sendeten ARD und ZDF konkurrierende Rechnungen. Wir schauen einmal auf die Anfänge der Computer-Wahlnacht zurück.
Die gute alte Zeit! Denken wir an die Bundestagswahl 1961, bekannt aus Presse, Funk und Wochenschau. Am Tage gaben die Bürger ihre Stimmen ab, abends diskutierten sie vielleicht noch etwas, dann ging man ins Bett. Journalisten und Politiker blieben wach, doch erst um 5:36 Uhr lag das amtliche Endergebnis vor. Otto Normalverbraucher erfuhr das Wahlergebnis am nächsten Morgen. Der Computer diente nur dazu, aus den ausgezählten Stimmen die Sitzverteilung im Parlament zu berechnen.
Bei der Bundestagswahl am 19. September 1965 war es anders. Damals gab es im deutschen Fernsehen die erste Hochrechnung, angestellt von einer IBM 1620. Der Transistorcomputer und seine Peripherie standen im Institut für angewandte Sozialwissenschaften in Bad Godesberg. Die Marktforschungsfirma hatte 100.000 DM von der ARD erhalten. Viele Mitarbeiter von Rundfunkanstalten umlagerten den Rechner. Chefkommentator war der WDR-Journalist Rudolf Rohlinger.
Jener Abend ist in Auszügen auf YouTube erhalten. Zweieinhalb Stunden nach Schließung der Wahllokale gab es die erste Voraussage: CDU/CSU 43-46 %, SPD 39-42 %, FDP 8-11 %. Um 21:43 Uhr kamen genauere Daten: 45,6 %, 39,4%, 10,1%. Die späteren Zahlen 47,1 %, 39,3 % und 9,5 % lagen maximal einen halben Prozentpunkt vom Endresultat entfernt. Ludwig Erhard blieb Bundeskanzler; Ende 1966 ging die CDU/CSU jedoch eine Koalition mit der 1965 geschlagenen SPD ein. Kanzler wurde Kurt Georg Kiesinger.
Den Wahlabend von 1965 verfolgte auch das zwei Jahre zuvor gegründete ZDF. Die in Mainz ansässige Fernsehanstalt mietete die Bonner Beethovenhalle und organisierte eine große Wahlparty, der wir das Eingangsbild verdanken. Das ZDF griff ebenfalls auf einen Computer zu, doch mehr auf menschliche Vermutungen. Der Politologe Rudolf Wildenmann wagte elf Minuten vor der ARD eine Schätzung: 48,7 % für die CDU/CSU, nur 36,5 % für die SPD und 9,7 % für die FDP. Die Mainzer waren also schneller aber falscher.
Am 10. Juli 1966 stand die nächste „Computerwahl“ an, diejenige im Bundesland Nordrhein-Westfalen. Eine am Abend verkündete Meinungsumfrage hatte CDU-Ministerpräsident Franz Meyers eine Mehrheit prognostiziert, doch bald kam die Ernüchterung. Um 19:14 Uhr lieferte die IBM in Bad Godesberg die erste Hochrechnung: SPD 49,8 %, CDU 42,1 %, FDP 7 %. Drei Minuten später meldete sich der Computer des ZDF und bestätigte die Zahlen der ARD. Franz Meyers blieb damals Landesvater, doch ab Dezember regierte Heinz Kühn von der SPD.
Die NRW-Wahl war die erste, bei der die Experten von ARD und ZDF mit der gleichen Methode antraten, der Stichproben-Prognose. Sie basiert auf der Wahrscheinlichkeitstheorie. Nehmen wir an, in einem Land hätten zwei Drittel der Bürger für die Partei ABC gestimmt und ein Drittel für die Partei XYZ. Wenn man nun nach dem Zufallsprinzip Bürger auswählt und ihre Stimmabgaben prüft, so wird sich nach und nach eine Verteilung von 2/3 und 1/3 herausbilden. Die Statistiker sprechen hier vom Gesetz der großen Zahl.
Hochrechnungen und ebenso Meinungsumfragen drehen das Gesetz um. Sie untersuchen Teilmengen einer Population und ermitteln, was die Mitglieder dieser Mengen tun oder denken. Aus den Werten schließen sie auf die Verteilung in der Gesamtheit. 1965 wurden noch ganze Wahlkreise herausgepickt, ab 1966 konzentrierten sich die Hochrechner auf eine Auswahl von Stimmbezirken. Das Verfahren ist wissenschaftlich, aber der Teufel steckt wie so oft im Detail. Mitunter traten bei Wahlabenden höchst dubiose Berechnungen auf.
Besonders spannend machten es ARD und ZDF bei der Bundestagswahl 1969. Nach 20 Jahren CDU-Führung lag ein Wechsel in der Luft. Die TV-Anstalten scheuten bei den Wahlsendungen weder Kosten noch Mühe. Das Erste Programm mobilisierte 500 Mitarbeiter und 75 Kameras, das Zweite 400 Leute vor und hinter 41 Kameras. Zum Hochrechnen bot das Institut für angewandte Sozialwissenschaften eine IBM 360/40 auf. Die ZDF-Forscher benutzten den gleichen Computertyp in der IBM-Niederlassung Düsseldorf.
Am Wahltag, dem 28. September 1969, kam es zur Blamage. Die ARD wies in der ersten Runde der Hochrechnung der CDU/CDU 1,5 Prozentpunkte zuviel und der SPD 1,6 Punkte zuwenig zu. Beim ZDF sah es kaum besser aus. Stundenlang deutete alles auf einen Sieg von Kanzler Kiesinger hin. Erst nach 22 Uhr machte das Bad Godesberger Institut einen Vorsprung für SPD und FDP aus. Noch um Mitternacht gaben die Computer im Vergleich zum Endergebnis der CDU/CSU einen Parlamentssitz mehr und der FDP einen weniger.
Soweit die Geschichte. Bei der Wahl 1976 wurde als weiteres Prognoseinstrument die Nachfrage eingeführt. Dabei werden an Wahllokalen zufällig Leute ausgewählt und ihre Stimmabgabe erkundet. Tiefer in die Technik der Hochrechnungen führt eine Broschüre ein. Kürzer macht es ein Video mit Ranga Yogeshwar, das man auch nachlesen kann. Einen Wahlcomputer von 1970 zeigt dieser Film aus Österreich. Über den US-Rechner, der 1952 die allererste Hochrechnung vornahm, haben wir schon im Blog berichtet.
Zum Schluss möchten wir an ein rundes Jubiläum erinnern. Vor siebzig Jahren, am 8. Mai 1947, führte Elisabeth Noelle-Neumann am Bodensee ihre ersten Interviews, damals für die französische Militärregierung. Ihre Aktivität führte zum Institut für Demoskopie Allensbach. Unten sehen wir die Meinungsforscherin und ihren Mann, Erich Peter Neumann. Rechts steht Konrad Adenauer, der einzige Bundeskanzler, der niemals hochgerechnet wurde.
Bundesarchiv, B 145 Bild-F014584-45 / Unterberg, Rolf / CC-BY-SA 3.0
Eingangsbild: Bundesarchiv, B 145 Bild-F021189-0005 / CC-BY-SA 3.0
Die Fotos wurden bearbeitet.