Wir, die Roboter
Geschrieben am 04.06.2021 von HNF
Im März erschien der Roman „Klara und die Sonne“ des Literatur-Nobelpreisträgers Kazuo Ishiguro. Darin schildert eine Roboterin die Welt der Menschen in der Zukunft. Ishiguro war nicht der erste Autor, der diese Perspektive wählte. Schon 1939 veröffentlichte der junge Amerikaner Otto Binder Science-Fiction-Stories mit dem Roboter Adam Link. Auch der erzählte seine Erlebnisse in Ich-Form.
„Als wir neu waren, standen Rosa und ich in der Ladenmitte, wo auch die Zeitschriften auslagen, und hatten den größeren Teil des Schaufensters im Blick.“ So beginnt der Roman Klara und die Sonne von Kazuo Ishiguro. Der 1954 in Nagasaki geborene und seit 1960 in England lebende Schriftsteller erhielt 2017 den Nobelpreis für Literatur. Sein Roman kam im März u.a. in England, Amerika und Deutschland heraus.
„Klara und die Sonne“ spielt in naher Zukunft und wahrscheinlich in den USA. Die erwähnte Rosa und die Ich-Erzählerin Klara sind KFs oder Künstliche Freunde. So werden humanoide Roboter und Roboterinnen genannt, die man als Begleitpersonen im Geschäft kaufen kann. Klara kommt zur vierzehn Jahre alten Josie und nimmt am Familienleben teil. Josie wird krank und wieder gesund – viel mehr passiert eigentlich nicht im Buch. In einer Nebenhandlung legt Klara eine Straßenbaumaschine lahm, deren Abgase die Luft verpesten.
Die Leser sehen die Welt mit Klaras Augen und erhalten Einblick in ihr Denken. Sie verehrt die Sonne und achtet peinlich genau auf die Zufuhr von Solarenergie. Ihr Gesichtsfeld teilt sich gelegentlich in Kästchen auf – auf Englisch heißt es „boxes“. Dabei dachte der Autor vermutlich an die Segmentierung der Bildverarbeitung. An anderer Stelle erwähnt Klara ein „Wesen mit mehreren Gliedmaßen und Augen“, das sich plötzlich in zwei Hälften teilt. Mit Verspätung begreift sie, dass es zwei Leute waren, die aneinander vorbeiliefen.
„Klara und die Sonne“ ist kein Philosophiebuch, und über Techniken zum Erzeugen eines künstlichen Bewusstseins sagt der Roman nichts. Manchmal irritiert auch die Übersetzung. So beschreibt eine Romanfigur die Schwierigkeiten, die Menschen mit Robotern haben, und spricht von „sealed black boxes“. Die deutsche Fassung „Versiegelte schwarze Boxen“ wirkt seltsam, wenn man an die Herkunft des Begriffs denkt. Die Idee, eine Maschinenfrau als Erzählerin einzusetzen, bildet aber eine gute Grundlage für eine literarische Utopie. Sie ist nicht völlig neu.
„Vieles von dem, was geschah, ist mir noch ein Rätsel. Ich glaube aber, dass ich es langsam verstehe, Ihr nennt mich ein Monster, doch Ihr irrt Euch. Ihr irrt Euch gewaltig!“ Das sind die ersten Sätze der Kurzgeschichte I, Robot – ich, der Roboter. Sie hat nichts mit dem Roman von Isaac Asimov zu tun, der erst 1950 erschien. Die Geschichte stand im Januar 1939 in der Science-Fiction-Zeitschrift Amazing Stories. Ihr Verfasser war der 1911 in der Kleinstadt Bessemer – sie liegt nahe dem Oberen See im US-Staat Michigan – geborene Otto Binder.
„Ich, der Roboter“ trägt den Autorennamen Eando Binder. So nannten sich Otto und sein älterer Bruder Earl, als sie in den frühen 1930er-Jahren gemeinsam Stories schrieben. 1939 war aber nur Otto Binder von „E und O“ übrig geblieben. Er lebte in New York und verfasste neben Science-Fiction Dialoge für Comic-Strips. Dieses Feld wurde dann sein wichtigstes Arbeitsgebiet. Er betreute viele Superhelden und -schurken; 1959 erschuf er Supergirl. Er interessierte sich außerdem für UFOs. Otto Binder starb 1974 im US-Bundesstaat New York.
Seine Roboter-Story vom Januar 1939 hat Binder in einem längeren Nachwort kommentiert, wo wir ein kleines Bild von ihm finden. Zitat: „Ein Roboter, der in der ersten Person Singular spricht, war die grundlegende Idee dieser Geschichte. Sie traf mich wie ein Blitz.“ Der Schriftsteller erkannte überdies, dass ein Maschinenmensch mit Bewusstsein eine eigene Lebensform darstellt. Ein solcher Roboter ist keine tote Materie mehr, sondern ein geistiges Wesen mit Rechten und Pflichten.
Otto Binders Roboter heißt Adam Link. Er ist nach seinem Konstrukteur Dr. Link benannt; auf Englisch bezeichnet das Wort ebenso ein Binde- oder ein Zwischenglied. Die ersten sechs Seiten schildern im Detail, wie Adam laufen, sprechen und lesen lernt. Das Denken besorgt ein Iridium-Schwamm in seinem Kopf – mehr verrät Binder nicht. Den Strom zum Leben entnimmt Adam einem Bleiakkumulator; in der Illustration am Anfang der Story holt er sich gerade eine neue Batterie aus einem Auto.
Nach Adams Fertigstellung und seinem Training stirbt Dr. Link bei einem Unfall in seiner Werkstatt. Der Roboter läuft weg und gerät in den Verdacht, den Forscher ermordet zu haben. Er wird von der Polizei gesucht und kehrt heimlich in die Werkstatt zurück. Damit schließt „Ich, der Robot“. Im Juli 1939 druckte das „Amazing“-Magazin die Fortsetzung, im Januar 1940 erschien der dritte Teil. Adam wird festgenommen, vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Dem Elektrischen Stuhl entgeht er aber, denn er rettet drei Menschen das Leben; außerdem erweist sich seine Unschuld.
Auf die ersten drei Stories folgten bis 1942 sieben weitere; die Wikipedia-Seite von Adam Link führt alle Adressen auf. Nach dem rundum gelungenen Beginn sanken die nächsten Abenteuer in die Tiefen der Trivialliteratur ab. 1965 fasste ein amerikanischer Verlag die zehn „Amazing“-Texte in einem Buch zusammen. Eine erheblich gekürzte deutsche Übersetzung kam 1969 als Heftroman heraus. Schon 1964 wurde Adam Links Mordprozess für eine Serie des TV-Netzes ABC verfilmt – die Reklame bitten wir zu entschuldigen. In einer Nebenrolle trat der spätere Raumschiff-Enterprise-Star Leonard Nimoy auf.
Vergleicht man die Adam-Link-Geschichten mit Kazuo Ishiguros Roman, so schneidet Otto Binder gar nicht so schlecht ab; philosophisch hat er sogar die Nase vorn. Er kannte den Roman Frankenstein, der eine Ich-Erzählung des künstlichen Menschen enthält, und „I, Robot“ spielt ab und zu auf den Frankenstein-Film von 1931 an. Von einem funktionierenden künstlichen Bewusstsein sind wir aber noch so weit entfernt wie der französische Gelehrte René Descartes, als er 1637 sein Ich denke, also bin ich schrieb.
Zum Schluss möchten wir ein rundes Jubiläum der Literaturgeschichte feiern. Vor 150 Jahren, am 21. und 24. Juni 1871, brachte die „Schlesische Zeitung“ Bis zum Nullpunkt des Seins, die erste Zukunftserzählung von Kurd Laßwitz. Der Vater der deutschen Science-Fiction schilderte unter anderem die Elektrotypie, eine Art Super-Twitter. Sie setzt beliebige Texte auf öffentliche Zeitungstafeln; dort bleiben sie 50 Minuten für alle sichtbar. Die Details stehen im dritten Kapitel, bitte etwas scrollen. Und hier geht es zum Twitter-Kanal des HNF.