80 Jahre Colossus
Geschrieben am 02.02.2024 von HNF
Am 5. Februar 1944 arbeitete im englische Kryptologiezentrum Blechtley Park der erste Colossus. Auf den Prototyp folgten neun Elektronenrechner ähnlicher Bauart; mit ihnen ließen sich Funksprüche lesen, die deutsche Militärs mit den Schlüsselzusätzen SZ 40 und SZ 42 chiffrierten. Nach Ende des Krieges wurden alle Colossus-Rechner verschrottet, seit 2007 läuft in Bletchley Park ein Nachbau.
Im Blog sprachen wir schon einige Male über das englische Forschungszentrum Bletchley Park und seine Aktivitäten im Zweiten Weltkrieg. Dort befassten sich Kryptologen – meist männlich – und ihre Assistentinnen – meist weiblich – damit, den chiffrierten deutschen Funkverkehr lesbar zu machen. Bekannt sind die Erfolge des Zentrums bei Nachrichten, die mit Enigma-Maschinen verschlüsselt wurden. In diesem Feld zeichnete sich, wie man weiß, der Mathematiker und Computerpionier Alan Turing aus.
Bletchley Park interessierte sich nicht nur für die Enigma. Englische Abhörstationen fingen ebenso Signale von einem Fernschreiber-ähnlichen Gerät auf. Das war der Schlüsselzusatz SZ 40, der mit einem normalen Fernschreiber zusammenarbeitete. Der SZ 40 stammte von der Berliner C. Lorenz AG; 1942 löste ihn das Modell SZ 42 ab. Den Zusatz verwendeten nur höhere deutsche Kommandostellen. Er erzeugte Fünf-Bit-Worte und kombinierte sie durch eine Entweder-Oder- oder XOR-Verknüpfung mit den fünf Bit langen Daten des Klartextes. Das Ergebnis wurde per Funk verschickt.
Beim Empfänger stand das gleiche SZ-Gerät und produzierte denselben Datenstrom. Wandte man ihn nach dem XOR-Prinzip auf die einlaufenden verschlüsselten Bits an, ergab sich als Resultat der ursprünglich eingetippte Klartext. Den Kryptologen in Bletchley Park gelang es bis 1942, den Aufbau des Schlüsselzusatzes zu rekonstruieren. Er umfasste zwölf Räder mit Einstellelementen; ihre Zahl lag zwischen 23 und 61. Der Bletchley-Park-Mitarbeiter Bill Tutte erdachte eine statistische Analyse von Lorenz-verschlüsselten Funksprüchen, mit der man mit etwas Mühe den jeweiligen Klartext ermitteln konnte.
Nach dem Tutte-Verfahren wurde solche Funksprüche in Bletchley Park zunächst von Hand dechiffriert. Im Sommer 1943 nahm die Decodiermaschine Heath Robinson den Betrieb auf; sie kam aus einem Forschungsinstitut der Royal Air Force. Das nach einem Karikaturisten benannte Gerät verglich mit Fotozellen zwei Lochstreifen, die nebeneinander in hohem Tempo hindurchliefen. Der eine trug den deutschen Geheimtext, der andere basierte auf den theoretisch möglichen Einstellungen des Lorenz-Schlüsselzusatzes. Die Maschine war schwer zu beherrschen; ein Problem stellte vor allem der Gleichlauf der Lochstreifen dar.
An der Konstruktion des Heath Robinson wirkte der 1905 geborene Ingenieur Tommy Flowers mit. Er arbeitete in der Forschungsstelle der englischen Post im Nordwesten von London. Flowers kannte sich mit Elektronik aus und sah, dass man den Lochstreifen für die Lorenz-Maschine durch eine Schaltung mit Röhren ersetzen konnte. Allerdings wurden weit über tausend Stück benötigt, was die Kryptologen in Bletchley Park abschreckte. Flowers und seine Kollegen begannen dennoch im Februar 1943 mit dem Bau eines Heath-Robinson-Nachfolgers. Im Dezember lief das erste Modell mit 1.600 Röhren in London.
Im Januar 1944 wurde es zerlegt und in Bletchley Park neu aufgebaut. Dort erhielt es den Namen, der haften blieb: Colossus. Es lief von Anfang an problemlos; das Knacken eines Geheimtextes dauerte nur wenige Stunden. Am 5. Februar 1944 untersuchte Colossus den ersten Lochstreifen. Jetzt waren die Kryptologen beeindruckt und drangen auf weitere Modelle. Im Juni 1944 stellte Tommy Flowers den nächsten Colossus mit 2.400 Röhren fertig. Insgesamt wurden in Bletchley Park zehn Anlagen benutzt. Keine von ihnen existiert noch, einige Röhren besitzt heute das Londoner Science Museum.
Nach Kriegsende mussten die Colossus-Konstrukteure ihre Arbeit geheim halten. Erst in den 1970er-Jahren fand der britische Informatiker und IT-Historiker Brian Randell mehr darüber heraus. Das ist ein Aufsatz von ihm von 1972; diesen Vortrag hielt er 1976 auf einer Tagung in den USA. Auch Randell durfte noch nicht alles sagen, was er wusste. Die kryptologischen Hintergründe der Colossus-Rechner verriet 1977 die BBC in einer TV-Serie, bitte zu Minute 4:41:00 vorgehen. Bei Minute 4:47:30 tritt Tommy Flowers auf. Die BBC verwechselte dabei den Lorenz-Schlüsselzusatz mit dem Geheimschreiber von Siemens.
Nach und nach wurden weitere Einzelheiten bekannt, etwa ein offizieller Bericht von 1945. Englische Kryptologie-Fans, allen voran der Ingenieur Tony Sale, begannen in den 1990er-Jahren mit einem Nachbau des Colossus. 2007 fand die Einweihung statt; an der das HNF mitwirkte. Die Farbfotos unseres Blogbeitrags zeigen jenen Nachbau; HNF-Geschäftsführer Dr. Jochen Viehoff nahm sie im Computermuseum von Bletchley Park auf. Seit 2011 hat das Museum auch Nachbauten des Heath Robinson und der Tunny-Maschine, die im Krieg den Lorenz-Schlüsselzusatz simulierte.
In der Entwicklungsgeschichte des Computers waren die Kolosse von Bletchley Park die ersten großen Röhrenrechner. Sie lösten allerdings eine Spezialaufgabe und ließen sich nur eingeschränkt programmieren. Wer mehr über sie wissen möchte, kann nach Anmeldung im Internet Archive das Buch des Schriftstellers Paul Gannon von 2006 lesen. Kürzere Artikel stehen hier und hier. 2019 entstand ein Fernsehbericht; er zeigt den Nachbau in Bletchley Park sowie einen Clip mit Tommy Flowers aus dem Jahr 1996. Seit 2023 wird der Ingenieur durch eine Blaue Plakette am früheren Londoner Postforschungsinstitut geehrt.
Im Januar 2024 veröffentlichte der englische Krypto-Geheimdienst GCHQ Dokumente zum Colossus, darunter Fotos einer Maschine, die 1963 noch existierte. Weitere „unseen images“ brachte die BBC. Der abgebildete Rechner wurde später aber mit Sicherheit entsorgt.
Tommy Flowers war nicht nur ein genialer Ingenieur sondern auch ein witziger Chronist der Laborarbeit an Colossus: The practical speed at which Colossus could be operated was tested by loading it with a maximumlength tape and increasing the speed until something happened. At about 9700 characters per second, the tape broke in one and then several places. The various sections of tape did their best to obey Newton’s first law and travel in a straight line in the direction they happened to be going with an initial velocity of nearly 60 miles per hour, and thus found all sorts of curious places in which to come to rest. Clearly, the maximum safe speed at which paper tape could be driven could not be much )greater than 5000 characters per second.
Im Text steht: „Beim Empfänger stand das gleiche SZ-Gerät und produzierte denselben Datenstrom.“
So einfach ging das alles nicht. Auf der Empfangsseite saß ein sog. Morse Slip Reader (MSR), meist geschulte Frauen, die das häufig gestörte Eingangssignal interpretieren, d.h. jeweils einem Zeichen des 5-Bit-Baudot-Codes zuordnen mussten. Die Nachricht ging dann nach Bletchley Park. Die Wissenschaftler dort verlangten von den MSR eine Fehlerrate von nur 1 auf 1000.
Der HNF-Blogger war wieder sehr aufmerksam: mit „Empfänger“ bezeichnete er richtigerweise die deutsche Empfangsstelle einer mit der SZ42 verschlüsselten Nachricht. Ich dagegen meinte mit „Empfänger“ die britische Funkaufklärung, der beim Abhören der Radiobänder diese Nachricht unfreiwillig ins Netz gegangen war.