Computerwürmer greifen an
Geschrieben am 02.11.2018 von HNF
Am Abend des 2. November 1988 breitete sich in amerikanischen Computernetzen ein Schadprogramm aus. Es verlangsamte zweitausend Rechner oder legte sie völlig lahm. Autor der Software war Robert Morris, ein Student der Cornell-Universität; sie erhielt nach ihm den Namen Morris-Wurm. Im Mai 1990 wurde Morris zu einer Bewährungsstrafe, sozialer Arbeit und 10.050 Dollar Geldbuße verurteilt.
Am Anfang war der Bandwurm. Er ist ein lästiges Geschöpf, das auch Menschen heimsucht. Der englische Science-Fiction-Autor John Brunner übertrug ihn 1975 in die Technik. In seinem Roman „Der Schockwellenreiter“ sind Bandwürmer oder kurz Würmer Programme, die durch Computernetze eilen und sich dort fortpflanzen. Das Buch lasen John Shoch und Jon Hupp, Mitarbeiter des kalifonischen Forschungszentrums Xerox PARC. 1980 berichteten die zwei, wie sie solche Programme tatsächlich schrieben und testeten.
Die Xerox-Würmer blieben im Datennetz des PARC und gerieten in Vergessenheit. Bekannt wurden dafür die Computerviren. Das sind Programme, die heimlich auf Dateien sitzen und bei deren Weitergabe auf fremde Rechner springen. Dort können sie harmlose Streiche spielen, aber ebenso Daten zerstören. Das Wort wurde 1984 von Fred Cohen erfunden. Anfang November 1987 machte ein Virus Schlagzeilen, der in der amerikanischen Lehigh-Universität auftauchte und die Inhalte von Disketten löschte.
Ein Jahr später, am 2. Novembers 1988, saß ein Student an einer Sun-Workstation im Institut für Informatik der Cornell-Universität. Bis in den Abend bastelte er an einem Programm und stellte es fertig. Die Uni liegt im Ort Ithaca in der Mitte des US-Bundesstaats New York. Gegen 20.30 Uhr kontaktierte der Student über das Internet einen Computer des Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston. Er loggte sich ein, versandte seine Programmdatei und tippte die Befehle zum Ausführen ein. Danach holte er sich etwas zu essen.
Als er zu seiner Workstation zurückkehrte, reagierte diese nicht mehr. Das hatte seinen Grund: Das Programm, das der junge Mann abgeschickt hatte, war ein Computerwurm. Vom MIT in Boston ging er ins Internet und drang in fremde Systeme ein. Von jedem Knoten aus startete der Wurm aufs Neue und nahm nur wenig Rücksicht auf bereits eroberte Rechner. Die Software richtete keinen direkten Schaden an, das nicht endende Anfertigen von Kopien lähmte aber immer mehr Computer und brachte sie zum Absturz.
Zu den ersten Opfern zählten die Rechner der Cornell-Universität. Der Wurm nutzte zwei Schwachstellen des Unix-Betriebssystems aus; außerdem enthielt er einen Abschnitt zum Überlisten von Passworten. Einbrechen konnte er nur in VAX-Rechner von Digital Equipment und in Workstations des Typs Sun-3. Diese liefen aber in vielen Rechenzentren, sie bildeten das Rückgrat des Internets. In der Nacht vom 2. auf den 3. November 1988 stand der amerikanische Teil des globalen Netzes vor dem gefühlten Zusammenbruch.
Mit Mühe gelang es den Systemadministratoren, den Wurm zu stoppen und die schädliche Software zu entfernen. 1988 umfasste das amerikanische Internet rund 60.000 Computer; von diesen soll der Wurm zwischen 2.000 und 6.000 lahmgelegt haben. Die Attacke machte weltweit Schlagzeilen, der SPIEGEL meldete sie am Montag, dem 7. November 1988. Der Redakteur unterschied nicht genau zwischen Computerwürmern und Computerviren, sein Artikel war aber der erste des Magazins, der explizit das Internet erwähnte.
Die New York Times war schneller als der SPIEGEL und fand schon einige Tage zuvor den Schöpfer des Wurms. Am Samstag, dem 5. November, prangte auf der ersten Seite die Zeile: „Urheber des Computer-‚Virus‘ ist Sohn eines NSA-Experten für Datensicherheit“ Der Urheber hieß Robert Morris, geboren 1965 im US-Bundesstaat New Jersey. Sein Vater Robert Morris senior arbeitete in den berühmten Bell-Laboratorien. Unter anderem wirkte er beim Entwurf des Betriebssystems Unix mit. Daneben interessierte er sich für Verschlüsselung.
1986 wechselte der ältere Morris von den Bell Labs zum NCSC, dem nationalen Zentrum für Computersicherheit; dort wurde er Chefwissenschaftler. Das NCSC gehört zum Krypto-Geheimdienst NSA und berät die US-Regierung in allen Fragen des Datenschutzes. Robert Morris junior war bereits als Teenager ein echter Computerexperte. Nach dem Besuch einer Privatschule studierte er von 1983 bis 1988 Informatik an der Harvard-Universität. Im August 1988 immatrikulierte er sich in Cornell. Ein Vierteljahr später war er landesweit bekannt.
Angeblich wollte Robert Morris mit seinem Wurm nur die Größe des Internets messen. Es dauerte anderthalb Jahre, bis ihm in der Stadt Syracuse – sie liegt 75 Kilometer nördlich von Ithaca – der Prozess gemacht wurde. Im Mai 1990 sprach ihn ein Geschworenengericht wegen Computermissbrauch schuldig. Der Richter setzte eine dreijährige Bewährungsstrafe fest; hinzu kamen 400 Stunden soziale Arbeit, eine Geldbuße von 10.050 Dollar und die Prozesskosten. Eine Berufung blieb ohne Erfolg.
1999 promovierte Robert Morris an der Universität Harvard; anschließend wurde er Assistenzprofessor am MIT. 2006 erhielt er eine feste Dozentenstelle. Seit 2015 ist er „Fellow“ des US-Informatikerverbands ACM. Die Auszeichnung erfolgte für Beiträge im Gebiet der Computernetze, verteilten Systeme und Betriebssysteme. Ob auch der Wurm eine Rolle spielte, wissen wir nicht. Er schreckte aber die amerikanische Computerszene auf und trug dazu bei, dass sie ein verstärktes Bewusstsein für Netzsicherheit entwickelte.
Im nächsten Monat beginnt die Adventszeit; sie bescherte uns die Pionierleistung eines deutschen Hackers. Am 9. Dezember 1987 erschien im europäischen Forschungsnetz EARNet ein Weihnachtsgruß, der sich nach Aktivierung sofort in alle Richtungen ausbreitete. Er griff auf andere Netze über und brachte das VNet der IBM zum Einsturz. Christmas Tree gilt als erster Internet-Wurm überhaupt. Der Autor, ein Student der Technischen Universität Clausthal, wurde damals erwischt, sein Name geriet aber in Vergessenheit.