Die ersten Computer der Sowjetunion
Geschrieben am 07.12.2021 von HNF
In der UdSSR begann der Einsatz von Computern im Dezember 1951. In Kiew wurde die von Sergei Lebedew entwickelte „Kleine elektronische Rechenmaschine“ MESM eingeweiht, in Moskau stellte Isaak Bruk die „Automatische digitale Rechenmaschine“ M-1 fertig. Diese Aktivitäten führten dann zu weiteren Röhrenrechnern. Gleichzeitig lief in der UdSSR jedoch eine Kampagne gegen die westliche Kybernetik.
In unserem Blog kommen Entwicklungen in Russland eher selten vor. Wir schilderten Semjon Korsakows Lochkarten und die Odhner-Rechenmaschinen aus Sankt Petersburg, dazu den Algorithmus von Anatoli Karazuba zur Multiplikation. Heute feiern wir aber zwei Geräte, mit denen die russische und die ukrainische Computergeschichte begann. Sie waren vor siebzig Jahren die ersten Elektronenrechner außerhalb der anglo-amerikanischen Welt.
Zunächst einige Worte zum politischen Umfeld. Seit 1950 war die Sowjetunion Schauplatz einer intensiven Kampagne gegen die Kybernetik. Sie startete am 4. Mai 1950 mit einem Artikel der viel gelesenen Kulturzeitschrift „Literaturnaja Gaseta“. Er verdammte den Rechner Harvard Mark III des US-Computerpioniers Howard Aiken wie auch die neue Wissenschaft seines Landsmanns Norbert Wiener. Andere Presseorgane schlossen sich an; die Kritik zielte auf Kybernetik und Automation, auf Roboter und technische Zukunftsvisionen.
Der Feldzug lief bis 1955; der Sinn und Zweck war primär die Agitation gegen die USA. Zur gleichen Zeit entwickelten sowjetische Forscher und Forscherinnen ihre ersten Computer und erhielten genug finanzielle Mittel. Möglich machten es die Unterstützung des Militärs, das die Anti-Kybernetik-Propaganda ignorierte, und eine strenge Geheimhaltung. 1952 druckte eine russische Zeitschrift für Raketenbau aber eine Einführung in die elektronische Rechentechnik; sie war die Übersetzung eines Schweizer Grundlagentextes von 1950.
Der erste Computer der UdSSR hieß MESM; das ist im Russischen die Abkürzung für „Kleine elektronische Rechenmaschine“. Die MESM entstand nicht in Russland, sondern in Kiew, der Hauptstadt der damaligen ukrainischen Sowjetrepublik. Ihr Geburtsort war ein ehemaliges Krankenhaus am Stadtrand, in dem die Ukrainische Akademie der Wissenschaften ein Institut für Elektrotechnik betrieb. Der Institutsleiter Sergei Lebedew wurde am 2. November 1902 im russischen Nischni Nowgorod geboren. 1939 erwarb er den Doktorgrad in den Ingenieurwissenschaften.
Im Krieg war Lebedew in der Waffenforschung tätig. 1945 baute er einen frühen elektrischen Analogrechner; 1946 zog er nach Kiew. Ein Jahr später richtete er in seinem Institut ein Labor für Rechentechnik ein, 1948 begann er mit der Konstruktion der MESM. Anfang 1951 führte die Maschine das erste Programm aus. Die Verdrahtung und die Tests gingen weiter, am Weihnachtstag 1951 wurde der Computer eingeweiht. Er enthielt 6.000 Elektronenröhren; viele von ihnen bildeten in Form von Flipflop-Schaltkreisen den Arbeitsspeicher.
Zu jenem Zeitpunkt arbeitete Sergei Lebedew schon in Moskau und entwickelte seinen nächsten Großrechner. Die „Schnelle elektronische Rechenmaschine“ BESM-1 nahm 1953 den Betrieb auf. Das ist eine Wochenschau mit ihr und ihrem Erbauer, die vermutlich in der CSSR lief. Die Modelle BESM-2 und M-20 wurden 1958 fertig und in Serie produziert. 1953 übernahm Lebedew die Leitung des Moskauer Instituts für Mechanik und Rechentechnik. Er starb am 3. Juli 1974. Sein Erstling MESM wurde 1959 verschrottet; einige elektronische Bauteile sollen in Kiew erhalten geblieben sein.
Der zweite sowjetische Computer, der im Dezember 1951 in Dienst ging, trug den Namen M-1 oder ausgeschrieben „Automatische digitale Rechenmaschine M-1“. Ihr Urheber Isaak Bruk wurde am 8. November 1902 im weißrussischen Minsk geboren; er studierte Elektrotechnik in Moskau. Er arbeitete dann in Charkow in der Ukraine und ab 1935 im Moskauer Energie-Insitut ENIN, einer Forschungseinrichtung zur Elektrifizierung der UdSSR. Dort baute Bruk einen Analysator für Stromnetze und zwei mechanische Analogrechner. Im Zweiten Weltkrieg befasste er sich mit Feuerleitsystemen.
Nach Kriegsende leitete Isaak Bruk im ENIN das Labor für Elektrosysteme. 1948 entwarfen er und der junge Ingenieur Baschir Ramejew einen Röhrenrechner; die beide erhielten dafür ein Patent. Im Sommer 1950 stellte Bruk ein kleines Team zusammen und begann mit der Entwicklung der M-1. In ihr steckten 730 normale und acht Kathodenstrahlröhren ähnlich denen, die der Mark-1-Computer in Manchester aufwies. Sie dienten als Arbeitsspeicher; jede fasste 32 Worte zu 25 Bit. Die M-1 enthielt auch Kupferoxid-Gleichrichter deutscher Herkunft aus der Kriegsbeute der Roten Armee.
Nach der M-1 entstanden in Bruks Labor die M-2 und die M-3. Von 1958 bis 1964 leitete er ein neues Institut für elektronische Steuerungsmaschinen; anschließend war er noch als Berater tätig. Am 6. Oktober 1974 starb er in Moskau. Ein weiterer einflussreicher Computer der frühen 1950er-Jahre war Strela. Der „Pfeil“ basierte auf einem Entwurf von Baschir Ramejew; ab 1953 wurden acht Exemplare in einem Konstruktionsbüro in Moskau gefertigt. Jedes rechnete mit 6.200 Röhren und 60.000 Dioden. Damit endet unser Ausflug in die Anfangsjahre der sowjetischen Informatik.
Weitere Einblicke bieten dieses Buch, diese Internetseite und das russische virtuelle Computermuseum. Der Technikhistoriker Slava Gerovitch verfasste einen gelehrten Artikel und ein Buch zur sowjetischen Kybernetik. Animationsgeschichte schrieben 1968 die mit einer BESM-4 erzeugten Katzenfilme. Schließen wollen wir mit der Computerabteilung vom Moskauer Polytechnischen Museum; dort stehen Geräte, die Lochkarten-Pionier Herman Hollerith einst an Väterchen Zar lieferte. Unser Eingangsbild zeigt aber Akademik Sergei Alexejewitsch Lebedew (Foto Igor Petuschkow CC BY-SA 3.0 seitlich beschnitten)
Danke für diesen informativen Überblicksartikel über die frühe Computerentwicklung in der Sowjetunion. Als weiterführende Lektüre wissenschaftliche Art Wrote ich noch das von Wolfgang Ernst mitherausgegeben Buch „Computing in Russia: The History of Computer Devices and Information Technology Revealed“ sowie jüngst Leslie, Christopher und Martin Schmitt (Hrsg.): Histories of Computing in Eastern Europe, Cham: Springer International Publishing 2019 (IFIP Advances in Information and Communication Technology 549). Da ist auch ein schöner Artikel zur M-1 und Ramejew enthalten.
Ein paar Nachfragen: die Zuse Rechner Z1 und Z2 waren ja mechanisch. Die Z3 und die Z4 wiederum funktionierten aber doch zumindest semi elektronisch, oder?
Bezüglich der Ablehnung der Kybernetik, Spielte hier nicht der Stalinismus eine wichtige Rolle? Generell würde ich dazu die gesamte Wissenschaftssituation in der Sowjetunion unter Stalin betonen. So grassierte mit dem Lysenkismus auch eine dezidierte Ablehnung der Genetik. Wissenschaftler: innen traten sich bloß nicht, sich entgegen der herrschenden Lehrmeinungen zu äußern.
Zuletzt wollte ich fragen, warum der SATUN keine Erwähnung findet? Die Entwicklung finde ich deswegen besonders spannend, weil sie eine Alternative zum binären System der westlichen Computer ausprobiert hat.
Die Z3 und die Z4 waren elektromechanisch, sie liefen mit Relais. Hier haben wir mehr zur Z3: https://blog.hnf.de/12-mai-1941-die-geburt-des-computers/
Sicher ist die gesamte Wissenschaft der frühen 1950er-Jahre und die Ablehnung der Kybernetik nur vor dem Hintergrund des Stalinismus zu sehen.
SETUN ist ein guter Hinweis. Darauf werden im Blog noch einmal eingehen.
Zwei Jahre später bin ich bei der Recherche nach dem BESM-Computer nochmals auf diesem schönen zusammenfassenden Artikel gestoßen. Sie schreiben, dass der Computer 1953 den Betrieb Aufnahmen. Die Quellen, die mir vorliegen, sprechen aber eher von 1951/52 als Zeitpunkt, zu dem BESM „entwickelt“ und schließlich auch produziert worden war. 1953 wurde der Computer dem Stalin-Preis-Kommitee präsentiert, die allerdings den Strela bevorzugte. Apokin, Igor A.: „The Development of Electronic Computers in the USSR“, in: Georg Trogemann/Alexander Y. Nitussov/Wolfgang Ernst (Hrsg.): Computing in Russia: The History of Computer Devices and Information Technology Revealed, Braunschweig 2001, S. 76–103, hier S. 80-81 und auch Metropolis, Nicholas/Howlett, J./Rota, Gian-Carlo (Hrsg.): A History of Computing in the Twentieth Century: A Collection of Essays, Academic Press, New York 1985, S. 149; Fitzpatrick, Anne/Berkovich, Simon/Kazokova, Tatiana: „MESM and the Beginning of the Computer Era in the Soviet Union“, in: IEEE Annals of the History of Computing 28/3 (2006), S. 4–16, hier S. 12.
Die elektromechanische Z4 war von 1950 bis 1955 (leihweise) an der ETH Zürich in Betrieb. Im Juni 1954 wurde in Anwesenheit von Konrad Zuse ein in der Schweiz gebauter elektronischer Magnettrommelspeicher an die Z4 angeschlossen. Die Zuse KG erwarb die Trommel 1955 für 7000 Franken. Die Z4 befindet sich im Deutschen Museum in München, die Trommel ist jedoch verschollen.
Die Zuse KG fertigte für Remington Schweiz in Serie eine weitere weitgehend unbekannte elektromechanischen Maschine, den Rechenlocher M9 (=Z9). Das einzige erhaltene Exemplar steht im Depot des Berner Museums für Kommunikation.
Remington Rand (Zürich) entwickelte für die ETH Zürich eine Nachfolgemaschine M10. Wegen unüberwindbarer technischer Probleme wurde diese Lochkartenmaschine jedoch aufgegeben. Selbst der Besuch von Presper Eckert (Chefingenieur des Elektronenrechners Eniac) in Zürich brachte keine Lösung.
Ausführliche Angaben dazu finden Sie in:
Bruderer, Herbert: Konrad Zuse und die Schweiz, De Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston 2012, 250 Seiten, Konrad Zuse und die Schweiz (degruyter.com)
Bruderer, Herbert: Meilensteine der Rechentechnik, De Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston, 3. Auflage 2020, Band 1, 970 Seiten, 577 Abbildungen, 114 Tabellen, https://www.degruyter.com/view/title/567028?rskey=xoRERF&result=7
Bruderer, Herbert: Meilensteine der Rechentechnik, De Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston, 3. Auflage 2020, Band 2, 1055 Seiten, 138 Abbildungen, 37 Tabellen, https://www.degruyter.com/view/title/567221?rskey=A8Y4Gb&result=4
Bruderer, Herbert: Milestones in Analog and Digital Computing, Springer Nature Switzerland AG, Cham, 3rd edition 2020, 2 volumes, 2113 pages, 715 illustrations, 151 tables, translated from the German by John McMinn, https://www.springer.com/de/book/9783030409739