
Endlich enträtselt: Goethes Hexeneinmaleins
Geschrieben am 29.04.2025 von HNF
Ab dem 30. April feiert die Klassik Stiftung Weimar den 250. Jahrestag der Ankunft von Johann Wolfgang Goethe in der Stadt. Im Mittelpunkt steht das Hauptwerk des Dichters, das Drama „Faust“. In seinem ersten Teil enthält es Goethes Beitrag zur Mathematik, das Hexeneinmaleins. Nach gründlichen Forschungen wissen wir, welche Geheimnisse hinter den mysteriösen Zeilen stecken.
Goethe war gut, denn er konnte reimen, die Mathematik mochte er aber nicht so sehr. So schrieb er einmal: „Die Mathematiker sind eine Art Franzosen: Redet man zu ihnen, so übersetzen sie es in ihre Sprache, und dann ist es alsbald etwas anderes.“ Da er zugleich ein großer Dichter war, karikierte er die Rechenkunst auch in poetischer Form, nämlich in Gestalt des Hexeneinmaleins.
Dieses steht im ersten Teil des Faust, das Drama ist das Hauptwerk des 1749 in Frankfurt am Main geborenen und 1832 in Weimar verstorbenen Autors. Der Titelheld Heinrich Faust schließt zu Beginn des Stücks einen Pakt mit dem Teufel Mephistopheles, der ihm zu neuen Erkenntnissen und Erlebnissen verhelfen soll. Die beiden besuchen eine Studentenkneipe in Leipzig und anschließend eine Hexenküche. Die Inhaberin braut für Faust einen Trank, der ihn jünger erscheinen lässt, und zitiert dabei aus einem Zauberbuch:
„Du musst verstehn! Aus Eins mach’ Zehn, Und Zwei lass gehn, Und Drei mach’ gleich, So bist Du reich. Verlier’ die Vier! Aus Fünf und Sechs, So sagt die Hex’, Mach’ Sieben und Acht, So ist’s vollbracht: Und Neun ist Eins, Und Zehn ist keins. Das ist das Hexen-Einmal-Eins!“
Unser Eingangsbild zeigt die Szene mit der Hexe und ihren äffischen Assistenten aus einer englischen Aufführung von 1886 (Foto Victoria & Albert Museum). Seit dem Erstdruck des Einmaleins im Jahr 1790 suchen die Germanisten nach seinem Sinn. Einige Deutungen stellte die Wikipedia zusammen; der bekannte Faust-Film von 1960 strich das Zauberbuch und verband die Passage mit einem Kartenspiel. Das war keine schlechte Idee, doch eine andere Interpretation liegt näher, die auch Goethes Sicht der Mathematik berücksichtigt.
Im Klartext: Das Hexeneinmaleins ist ein Spiel mit römischen Zahlen; wir können uns Johann Wolfgang Goethe vorstellen, wie er mit Kreide auf einer Tafel oder mit einem Stock im Sand solche Ziffern schreibt und wieder löscht. In diesem Stil lauten die Zeilen wie folgt: „Aus I mach X, und II lass gehen, und III mach‘ gleich, So bist Du reich. Verlier die Vier! Aus V und VI, So sagt die Hex‘, Mach VII und VIII, So ist’s vollbracht: Und IX ist I, Und X ist keins.“ Warum die Vier nicht digitalisiert wird, verraten wir sofort.
Der Dichter beginnt also mit einem Strich und zeichnet mit einem zweiten ein Kreuz, die Zahl X. Weitere Striche führen von X zu XII – „Und II lass gehn“ – und XIII. Die Hexe mag natürlich die Unglückszahl: „So bist Du reich“. Die Zeile „Verlier die Vier!“ meint die Streichung der vier Ziffern der XIII. Danach setzt Goethe mit der V neu an und kommt mit drei Strichen zur VIII. „So ist’s vollbracht“ erinnert an den Tod von Jesus am Kreuz, der in der neunten Stunde um 15 Uhr stattfand. Goethe macht eine IX und löscht das X: „Und IX ist I, und X ist keins.“
Und damit wäre ein Rätsel der deutschen Literatur erfolgreich gelöst. Wer sich noch für die nichtmathematischen Aspekte des Stückes interessiert, sollte zum Goethe-Jubeljahr nach Weimar fahren, das in der morgigen Walpurgisnacht startet. Das Schiller-Museum der Stadt eröffnet eine Sonderausstellung über Faust und seine Freunde, in der – man staunt – auch die Künstliche Intelligenz vorkommt. Vermutlich ist damit der auf alchemistischem Wege erzeugte Homunculus im zweiten Teil des Dramas gemeint.
Nicht literarisch verwertet hat Johann Wolfgang Goethe, ab 1782 „von Goethe“, sein Wissen um echte Automaten und Rechengeräte. 1805 besuchte er den 75 Jahre alten Gelehrten Gottfried Christoph Beireis, der unter anderem die künstliche Ente des berühmten Konstrukteurs Jacques de Vaucanson und eine Rechenmaschine des schwäbischen Pfarrers Philipp Matthäus Hahn besaß. 1797 sah Goethe in Jena einen Nachbau der Sprechmaschine des Wolfgang von Kempelen. Sein Schachtürke hat ihn anscheinend nicht interessiert.
Sehr schön! Was mir im Artikel fehlt ist eine Quellenangabe, wer die neue Deutung mit den römischen Zahlen vorgeschlagen hat. Oder ist das eine originäre Idee des Autors?
Falls letzteres zutrifft — dürfen wir ausnahmensweise den Autorennamen erfahren statt nur des generischen Verweises auf das „HNF“? Nur keine falsche Bescheidenheit! 🙂
Der Beitrag basiert auf einem Artikel des Technikhistorikers Ralf Bülow in Heft 5-6/1997 der Zeitschrift ‚Muttersprache‘.
Schöne Endeckung – danke!