Enigmarelle – der Rätselhafte
Geschrieben am 27.09.2024 von HNF
Vor 120 Jahren trat in einem Theater in Brooklyn ein anscheinend künstlicher Mensch auf. Er hieß Enigmarelle und konnte herumlaufen, Treppen steigen, seinen Namen auf eine Tafel schreiben und Fahrrad fahren. 1905 zeigte er sich in London, 1906 folgten Engagements in Wien und Berlin. Inzwischen wissen wir aber, dass sich in ihm ein Artist verbarg.
Im 19. Jahrhundert gab es die Dampfmenschen, die ersten Show-Roboter in der Geschichte der Technik. Im frühen 20. Jahrhundert folgten humanoide Automaten wie Occultus aus Berlin. Im Januar 1904 meldete die Zeitschrift The Electrical Worker – Herausgeber war die Gewerkschaft der amerikanischen Elektrizitätsarbeiter – die „Seltsame Erfindung eines Mannes aus Chicago“. Der Artikel steht auf den PDF-Seiten 24 und 25 und beschrieb einen elektrischen künstlichen Menschen.
Er hieß Enigmarelle, hatte lange blonde Haare und maß 1,72 Meter. Sein Erbauer Frederick J. Ireland war Jahrgang 1873 und stammte aus Dublin. Im August 1904 stellte er sein Geschöpf in einem Theater im New Yorker Stadtteil Brooklyn vor. Nach seinen Angaben hatte es drei Feder- und vier Elektromotoren sowie vierzehn Akkumulatoren, die den Strom lieferten. Die 365 Einzelteile bestanden aus Eisen, Stahl, Kupfer und Holz, der Kopf und die Hände aus Wachs. Auf dem Rücken trug Enigmarelle diverse Hebel zur Bedienung.
Ireland ließ ihn still stehen, vorwärts marschieren und sich nach rechts wenden. Er bestieg Stufen, und vor eine Tafel postiert schrieb er darauf mit Kreide „Enigmarelle“. Wie es hieß, wurden die Formen der Buchstaben durch Magnete gespeichert. Am Ende jeder Vorführung setzte Ireland die seltsame Erfindung auf ein Fahrrad, auf dem sie im Kreis fuhr. Für alle, die ihre maschinelle Natur bezweifelten, wusste der Erfinder eine Antwort: Er klappte den Kopf und die Brust auf, zeigte die Mechanik und schraubte unter den Knien die Beine ab.
Nach der Premiere in Brooklyn trat Enigmarelle im September 1904 am Broadway auf. 1905 sah man ihn in London; dort entstand auch ein Film mit ihm, der aber wohl verlorenging. Anfang 1906 präsentierte Ireland den künstlichen Menschen im Wiener Apollo-Theater und im März im Berliner Zirkus Busch. Aus jener Zeit sind eine Anzahl Zeitungsartikel zu ihm erhalten, man findet sie auf dem Portal ANNO und mit den Angaben „Jänner 1906“ und „März 1906“. Der Scientific American brachte im Januar 1906 einen Beitrag mit Fotos; der Redakteur deutete an, dass sich im Automaten ein Mensch befand.
In der Folgezeit trat Enigmarelle auf einigen Veranstaltungen in den USA auf, dann geriet er in Vergessenheit. 1938 erinnerten sich die Surrealisten in Paris an ihn, worauf er an einer Ausstellungseröffnung mitwirken sollte. Daraus wurde aber nichts. Frederick Ireland machte Karriere als Schauspieler, Regisseur und Filmproduzent; er starb 1939 in Detroit. Sein Geschöpf tauchte gelegentlich in Büchern zur Robotik auf. Mancher Autor äußerte den Verdacht, dass es nicht ganz echt gewesen wäre. Beweise legte aber niemand vor.
Die stellten sich erst in den 2000er-Jahren durch das Internet ein. Im Forum des Museum of Hoaxes meldete sich ein Nachfahre des Mannes, der einst im Inneren von Enigmarelle steckte und ihn zum Laufen brachte (bitte zum Ende der Liste gehen). Alba Root verlor beide Beine durch einen Unfall und wurde dann Varieté-Artist. Besonders gut beherrschte er Fahrrad-Tricks; die Werbung nannte ihn „the legless cycle wonder“. Ein Foto und weitere Einzelheiten enthält die Website Cyberneticzoo.
Im kybernetischen Zoo gibt es ein ganzes Gehege für Fake-Automaten. Enigmarelle belegt dort den siebten Platz hinter Wolfgang von Kempelens Schachtürken, der unbestrittenen Nummer Eins. Platz 44 gehört Miss Honeywell aus den 1960er-Jahren. Wir sind ihr im Blog bereits begegnet, und so wie in diesem Video dürfte sich auch Enigmarelle bewegt haben. Freuen wir uns aber, dass nach 120 Jahren die letzten Geheimnisse von Herrn Rätselhaft – er ist natürlich in unserem Eingangsbild zu sehen – gelüftet wurden.