Happy birthday, Kybernetik
Geschrieben am 22.10.2018 von HNF
Heute vor siebzig Jahren, am 22. Oktober 1948, erschien in Frankreich und den USA ein Buch mit dem Titel „Cybernetics“. Verfasst hatte es der amerikanische Mathematiker Norbert Wiener. Sein Werk behandelte die Regelung und den Datenfluss in lebenden Wesen wie in Maschinen. „Cybernetics“ führte zur Fachrichtung der Kybernetik; sie nahm Elemente der Künstlichen Intelligenz vorweg.
„Kybernetik: Das Wort beschreibt ein neues Forschungsgebiet, an dem viele Wissenschaften beteiligt sind. Unter anderem untersucht es Vorgänge, die sowohl im Nervensystem als auch in mathematischen Maschinen ablaufen.“ Das stand über einem sechs Seiten langen Beitrag im Novemberheft 1948 des Scientific American. Verfasser war Norbert Wiener, Professor für Mathematik am Massachusetts Institute of Technology in Boston.
Der Artikel in der vielgelesenen Zeitschrift warb für ein Buch, das seit kurzem auf dem Markt war. Gleich drei Verlage, zwei in den USA und einer in Paris, brachten am 22. Oktober 1948 „Cybernetics: Or Control and Communication in the Animal and the Machine” heraus. Der Autor hieß gleichfalls Norbert Wiener. „Cybernetics“ ist die erwähnte Kybernetik, der Untertitel bedeutet so viel wie Regelung und Datenübertragung in animalischen – auch menschlichen – Wesen und in Maschinen. „Communication“ meint also vor allem den internen Datenfluss wie denjenigen durch Nervenfasern.
„Control“ oder Regelung steht für die Lenkung eines organischen oder eines technischen Systems. Sie bewirkt, dass wichtige Parameter in den vorgegebenen Grenzen bleiben und sich das System an Veränderungen der Umwelt anpasst. Vor siebzig Jahren kannte man noch Fliehkraftregler wie den aus unserem Video. Die Auslenkung der Gewichte beeinflusst die Dampfzufuhr und somit die Drehzahl der Maschine. Das Ganze bildet eine Rückkoppelung oder ein Feedback. Seit dem 19. Jahrhundert ist das ein Thema der Regelungstechnik.
Norbert Wieners Buch erläuterte die Parallelen zwischen organischer und anorganischer Informationsverarbeitung. Ein Beispiel ist der Regelkreis, den man in Dampfmaschinen und Thermostaten wie im menschlichen Körper entdecken kann. „Cybernetics“ verglich auch schon das Gehirn mit den 1948 existierenden Analog- und Digitalrechnern. Gegen Ende brachte es eine bissige Kritik der sich abzeichnenden Informationsgesellschaft und schloss mit einer Notiz über Schachprogramme. (Die zweite Auflage von 1961 enthielt zusätzliche Kapitel über Lernmaschinen und Neurologie.)
Etwa die Hälfte des Buches nehmen schwierige mathematische Beschreibungen ein. Dennoch verkaufte sich „Cybernetics“ glänzend und machte Norbert Wiener landesweit bekannt. 1950 schrieb er die leichter verständliche Fortsetzung „The Human Use of Human Beings“; sie behandelte die Auswirkung der Technik auf das soziale Leben. Die deutsche Fassung „Mensch und Menschmaschine“ erschien 1952, die deutsche „Kybernetik“ erst 1962. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich Wieners Ideen aber schon weltweit verbreitet.
Das Buch „Cybernetics“ wirkte als ein akademischer Katalysator und setzte vielfältige Forschungsaktivitäten in Gang. In den 1960er-Jahren bildete sich so eine neue Wissenschaft mit Instituten und Publikationen heraus. Es entstanden auch spezielle Abteilungen wie die kybernetische Pädagogik. Oftmals wurde aber nur die Kybernetik mit der Computertechnik gleichgesetzt. In den 1970er-Jahren verschwand das Fach wieder. Geblieben sind uns noch die biologische Kybernetik und Ausdrücke wie Cyborg, Cyberspace oder Cyberpunk.
Der geistige Urheber der Kybernetik, Norbert Wiener, wurde am 26. November 1894 im US-Bundesstaat Missouri geboren. Er wuchs aber an der Ostküste der USA auf; sein Vater lehrte slawische Sprachen an der Harvard-Universität. Der kleine Norbert war ein Wunderkind und beendete die High School mit elf Jahren. Seinen Doktor in Mathematik machte er mit siebzehn in Harvard. Ab 1919 lehrte Wiener am MIT in Boston. Er starb am 18. März 1964 in Stockholm während einer Reise.
In seinem Fach befasste sich Wiener intensiv mit der Brownschen Bewegung, den zufälligen Ortswechseln eines Teilchens oder eines Punktes. Er dachte auch über technischen Fragen nach. 1940 brachte er einen Entwurf für ein elektronisches Rechengerät zu Papier; später arbeitete er über ein Feuerleitsystem zur Flugabwehr. Er lebt in vielen Konzepten weiter, die nach ihm benannt wurden. So kennen die Experten das Wiener-Filter, das Wiener-Maß, den Wiener-Prozess und die Wiener-Räume, nicht zu vergessen die Wiener-Wurst.
Wieners wichtigstes Werk bleibt jedoch die Kybernetik, die er mit dem griechischen Wort für Steuermann – kybernetes – bezeichnete. In den 1940er-Jahren lag die Verbindung von Regelungstechnik und Lebenswissenschaften in der Luft. So fand 1946 in New York die erste interdisziplinäre Macy-Konferenz statt, an der Norbert Wiener teilnahm. Das Thema war Rückkopplungen und Kreisprozesse in biologischen und sozialen Systemen. Schon 1943 hatten die Amerikaner Warren McCulloch und Walter Pitts das neuronale Netz erfunden.
1947 lernte Norbert Wiener in Paris den Verleger Enrique Freymann kennen. Er äußerte Interesse an einer Broschüre über Wieners Ideen. Der Mathematiker griff den Vorschlag begeistert auf und brachte in weniger als drei Monaten „Cybernetics“ zu Papier. Er schrieb den Text in Mexico City im Hause des Forschers Arturo Rosenblueth und lieferte ihn vor Jahresende ab. Es dauerte noch eine Weile, doch im Herbst 1948 kam das Buch gleichzeitig in Paris, Boston und New York heraus.
1949 entwarf Wiener einen Roboter auf drei Rädern. Die Motte reagierte auf Licht und zählte zu den frühesten mobilen Automaten, die das Verhalten von Lebewesen nachahmten. Sie entstand mehr oder weniger parallel zu den elektrischen Schildkröten, die der Neurologe William Grey Walter in England schuf. Die putzigen kybernetischen Tiere waren neben den stationären Lernmaschinen – wir berichten bereits über die Lernmatrix von Karl Steinbuch – der wichtigste Beitrag der Wissenschaft zur Künstlichen Intelligenz.
Das bringt uns zur Abteilung „Mensch, Roboter!“ über Künstliche Intelligenz und Robotik, die das HNF am 26. Oktober eröffnet. Zuvor findet das Heinz-Nixdorf-Kolloquium über denkende Maschinen statt. Heute abend um 19 Uhr hält der Münchner Philosophieprofessor Julian Nida-Rümelin einen Vortrag über digitalen Humanismus. Darin beantwortet er die Frage: „Dürfen Computer alles, was sie können?“ Der Eintritt ist frei, eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Wir freuen uns auf Ihr Kommen!