Vor fünfzig Jahren: die erste digitale Bibliothek
Geschrieben am 30.11.2021 von HNF
Der 1. Dezember 1971 gilt als Beginn des Project Gutenberg. Mit ihm brachte der junge Amerikaner Michael Hart Bücher ins Internet, deren Schutzfristen abgelaufen waren. Jeder konnte sie dann lesen oder herunterladen. In Deutschland startete 1994 ein vergleichbarer Dienst. Von März 2018 bis Oktober 2021 war der Bestand des US-Projekts aber für hiesige User blockiert.
Eigentlich begann alles im Sommer 1971. Am 4. Juli, dem amerikanischen Nationalfeiertag, bekam der Student Michael Hart die Benutzererlaubnis für einen Computer der Universität von Illinois im Städtchen Urbana. Nach dem Fourth-of-July-Feuerwerk bereitete er sich auf eine Nachtsitzung im Rechenzentrum vor; vorher kaufte er noch ein paar Lebensmittel ein. Beim Krämer nahm er eine auf falschem Pergament gedruckte Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten mit.
Hart war damals 24 Jahre alt. Er wurde 1947 im Nordwesten der USA geboren; sein Heimatort Tacoma errang 1940 durch einen Brückeneinsturz einen kurzen Ruhm. 1958 zog die Familie nach Urbana, wo die Eltern an der Universität lehrten. Vater Hart unterrichtete Shakespeare, die Mutter Mathematik; sie hatte im Krieg als Kryptologin gearbeitet. Sohn Michael befasste sich im Studium mit Mensch-Maschine-Schnittstellen. Er machte auch einen akademischen Abschluss; die Promotion führte er aber nicht zu Ende.
In der Nacht vom 4. auf den 5. Juli 1971 saß Michael Hart an seinem Computer und überlegte, wie er die Rechenzeit füllen sollte, ein rares Geschenk für einen Studenten. Da fiel ihm die Declaration of Independence ein. Er legte die mitgebrachte Kopie neben den Fernschreiber und tippte die rund achttausend Zeichen (mit Leerzeichen) in eine Datei ein. Sie enthielt nur Großbuchstaben, doch das störte den Studenten nicht. Er speicherte den Text auf einem Magnetband ab und setzte eine Meldung dazu in eine Mailbox.
Wer sich für das digitale Dokument interessierte, konnte jetzt den Dienst tuenden Operator kontaktieren und ihn bitten, das Magnetband in den Computer zu laden. Danach ließ sich die Datei auf den externen Rechner überführen. Die Universität von Illinois war schon ans aufstrebende ARPANET angeschlossen. Vielleicht stand die eingetippte Datei auch im lokalen Netzwerk PLATO zur Verfügung. Sechs Benutzer holten den Text auf ihr System. Ob Michael Hart schon den Namen Project Gutenberg benutzte, ist unbekannt.
Ebenso wissen wir nichts Genaues zum offiziellen Start am 1. Dezember 1971. Irgendwann wurden die Textdateien sicherlich auf einem Plattenlaufwerk abgelegt und erhielten auch Kleinbuchstaben. Meist gab Michael Hart die Bücher in den Rechner ein; manchmal kamen Helfer hinzu. Lange galt er aber nur als „der Verrückte, der Shakespeare in den Computer bringen will“. Das Tempo der Digitalisierung nahm zu, als 1988 der Programmierer Mark Zinzow zum Projekt stieß. In den 1990er-Jahren nutzte das Gutenberg-Team einen Scanner und Software zur automatischen Buchstaben-Erkennung.
Nach der Unabhängigkeitserklärung tippte Michael Hart 1972 die Bill of Rights ab. In einer Gemeinschaftsarbeit entstand 1989 eine elektronische Bibel. Sie war das zehnte „eBuch“, als hundertstes erschienen 1994 die Werke von William Shakespeare. Eine frühere Version musste in den 1980er-Jahren gelöscht werden, da sie gegen das Copyright-Gesetz der USA verstieß. Das tausendste Gutenberg-Buch war 1997 Dantes Göttliche Komödie im Original. Die inzwischen im World Wide Web abrufbare Bibliothek enthält auch Werke deutscher Sprache; 2016 waren es 1.500 Titel.
Am 3. Oktober 2015 gab Project Gutenberg das 50.000 Buch bekannt; es behandelte den Namensgeber. Die deutsche Urfassung liegt bei der Konkurrenz von Archive.org. Im Mai 2021 erschien eBook Nr. 65.000. Michael Hart wurde dabei nicht reich. Er verdiente seinen Lebensunterhalt durch eine Dozentenstelle; ab und zu erhielt er Geld durch sein Projekt. Er starb am 6. September 2011 in seinem Haus in Urbana inmitten einer Vielzahl gedruckter Bücher. Seine Schriften sind online, und hier ist die ihm gewidmete Flickr-Gruppe.
Seit 1994 existiert ein deutsches Gutenberg-Projekt, das sich mit dem amerikanischen nur den Namen teilt. Initiator war der Bremerhavener Informatiker Gunter Hille. Es wurde unter anderen von Spiegel Online betrieben; seit 2020 gehört es der Hamburger Firma Hille & Partner. Gutenberg-DE umfasst rund 10.000 Titel. 2007 startete in Berlin der Online-Dienst Zeno.org; sein Name geht auf Zenodotos von Ephesos zurück, erster Direktor der antiken Bibliothek von Alexandria. Seit 2009 gehört Zeno.org dem Forschungsverbund TextGrid.
Ende 2015 verklagte der S. Fischer Verlag das US-Projekt. Anlass war die Tatsache, dass die Amerikaner mehrere deutsche Romane anboten, die hierzulande noch nicht gemeinfrei waren. Im Februar 2018 verurteilte ein Frankfurter Gericht Project Gutenberg dazu, die Werke für deutsche IP-Adressen zu sperren. Daraufhin blockierte die Stiftung PGLAF, die den Dienst unterhält, sämtliche Titel ihres Angebots . Der Zustand hielt bis Oktober 2021 an. Seitdem sind mit wenigen Ausnahmen die Project-Gutenberg-Seiten wieder für uns lesbar.
Unser Eingangbild zeigt den Johannes-Gutenberg-Tisch des HNF; rechts liegt eine seiner Bibeln (in Kopie). Unten ist ein Foto des Jesuitenpaters Roberto Busa, der schon in den 1950er-Jahren ein digitales Wörterbuch zum Theologen Thomas von Aquin begann. Sein 56 Bände starkes eBook war aber erst 1980 fertig; 2005 ging der Index Thomisticus online.