Die Ahnen von Wikipedia
Geschrieben am 29.10.2019 von HNF
Das Wort Nupedia kombiniert das Neue – „new“ – mit der Enzyklopädie. So nannte der Internet-Unternehmer Jimmy Wales vor zwanzig Jahren sein Projekt für ein Online-Lexikon. Am 29. Oktober 1999 meldete er für seine Firma Bomis die nötige Domain an. Nupedia startete am 9. März 2000, bis zur Schließung im Jahr 2003 erschienen aber nur 25 Artikel.
Enzyklopädien schufen schon die alten Römer und Chinesen. Der berühmte Schriftsteller Plinius – er starb beim Vulkanausbruch von Pompeji – versammelte das Wissen der Antike in den 2.493 Kapiteln seiner Naturgeschichte. Der bayerische Gelehrte Johannes Aventinus benutzte 1517 als Erster Encyclopedia als Buchtitel. Anno 1751 begannen die französischen Enzyklopädisten ihr Mammutwerk aus siebzehn Text- und elf Bildbänden. 1771 lag die erste Fassung der Encyclopædia Britannica vor; es gibt sie im Prinzip immer noch.
1981 wurde das Lexikon – mittlerweile saß der Verlag in Chicago – von einem Datenbank-Dienst angeboten. 1993 brachte Microsoft die multimediale Encarta auf CD-ROM und DVD heraus. Der Preis sank schnell von 395 auf 99 Dollar; manchmal gab es das Werk gratis beim Computerkauf. Die Britanniker verloren Käufer und mussten reagieren. 1994 erschien ihre Enzyklopädie für 995 Dollar auf Silberscheibe und gegen Gebühren im neuen World Wide Web. Ab dem 20. Oktober 1999 konnte man sie völlig kostenlos im Netz lesen.
Neun Tage später meldete Jimmy Wales die Webadresse www.nupedia.com an. Er war 33 und stammte aus Huntsville/Alabama. Raumfahrtfans kennen den Ort als Heimat des Marshall Space Flight Center der NASA. Dort entwickelten Wernher von Braun und andere deutsche Raketenforscher die riesige Saturn V; mit ihr flogen Neil Armstrong und Edwin Aldrin zum Mond. Wales erlebte das nur als kleines Kind; er studierte später Finanzwirtschaft und erwarb Bachelor und Master.
Daneben lernte Jimmy Wales das Internet kennen; ab 1989 moderierte er ein Online-Forum zur Philosophie. Nach Abschluss des Studiums 1994 gelangte er als Händler an der Börse von Chicago zu bescheidenem Wohlstand. 1996 gründete er mit zwei Partnern die Firma Bomis. Sie war ein Verzeichnis von inhaltlich verwandten und miteinander verbundenen Internetseiten, sogenannten Webringen. Bomis deckte einen weiten Bereich von Themen ab; sich selbst sah das Portal als alternative Suchmaschine. Geld wurde durch die Anzeigen im Menü verdient.
Neben der Anmeldung von Nupedia entwarf Jimmy Wales vor zwanzig Jahren noch eine Art Gründungsurkunde, die Open Content License. Demnach war Nupedia eine Enzyklopädie, deren Beiträge direkt für das Internet geschrieben werden sollten. Unter Befolgung gewisser Regeln durfte jeder Leser sie weiterverbreiten. Eine ähnliche Idee hatte der Informatiker Rick Gates 1993 gehabt; seine Interpedia war aber bald wieder vergessen. Im März 1999 sprach der Freie-Software-Pionier Richard Stallman zum ersten Mal über seine GNUPedia.
Das klingt nach Nupedia; ob Wales jedoch von Stallmans Idee wusste, ist unbekannt. Den Kurs der neuen Enzyklopädie legte der Philosoph Larry Sanger fest, er wurde 1968 in einem Vorort von Seattle geboren und stieß Anfang 2000 zum Projekt. Nupedia startete am 9. März 2000 in San Diego, doch erst im Sommer war der erste Artikel fertig. Er erklärte den Begriff der Atonalität; verfasst hatte ihn der junge deutsche Musikwissenschaftler Christoph Hust.
Nupedia arbeitete wie die Redaktion einer richtigen Enzyklopädie: jeder Beitrag wurde einem Experten anvertraut und nach der Fertigstellung von anderen Experten lange und gründlich überprüft. Die schlechte Nachricht war, dass die Seite nach einem Jahr nur 21 Artikel enthielt. Am 26. September 2003 beendete Jimmy Wales das Nupedia-Projekt. Den Großteil der Texte kann man hier nachlesen – bitte die Titel anklicken. Einige von ihnen erschienen in einer Lang- und in einer Kurzfassung.
Larry Sanger verließ Nupedia bereits im Januar 2002. Ein Jahr zuvor hatte er den Nachfolger der Seite ins Leben gerufen: Wikipedia. Seine Nachricht vom 10. Januar 2001 trug die Überschrift Let’s make a wiki, die Seite selbst legte fünf Tage später los. Am Jahresende besaß sie 15.000 Einträge und einen deutschen Ableger; der Rest ist Geschichte. Die Internetausgabe der Encyclopædia Britannica wurde im März 2001 wieder kostenpflichtig; die letzte gedruckte Edition erschien 2010.
Jimmy Wales lebt heute in London, er zählt zu den Superstars des Web. Unser Eingangsbild zeigt ihn 2006 in Göttingen (Foto Philipp Bachmann CC BY 2.5 – Bild links beschnitten). Larry Sanger arbeitet in den USA für die Everipedia. Man kann sich denken, was sie tut.