Die digitale Schallplatte
Geschrieben am 16.07.2019 von HNF
Vor vierzig Jahren leitete der Walkman eine neue Ära des Musikhörens ein. Vor fünfzig Jahren testeten japanische Toningenieure eine neue Technik, um Musik festzuhalten. Sie digitalisierten die Schallwellen und speicherten die Daten. Mit diesem Verfahren wurden auch Schallplatten produziert. Im Juli 1979 erschien die erste Digital-LP mit Rockmusik, „Bop Till You Drop“ von Ry Cooder.
Trotz Phonograph, Schallplatte und Magnetband: Vernehmbare Musik wurde zuerst digital gespeichert. Im Mittelalter brachte man Kirchenglocken durch Stifte zum Läuten, die auf einer Walze steckten. Ähnlich funktionierten später Drehorgeln. Den höchsten Stand erreichte die automatische Musik im 20. Jahrhundert mit den Reproduktionsklavieren. Sie spielten Lochstreifen ab und gaben das Spiel des Pianisten fast naturgetreu wieder.
Im 20. Jahrhundert entwickelte sich auch die analoge Tontechnik. Sie gipfelte nach dem Zweiten Weltkrieg in der Schallplatte aus Polyvinylchlorid. Ein Tonarm folgt der Rille der Platte; ihre Kurven lösen die Schallwellen aus, die aus dem Lautsprecher dringen. 1945 meldete aber auch der amerikanische Ingenieur John Pierce ein Patent für die Puls-Code-Modulation PCM an. Das ist die Abtastung der Wellen und ihre Umsetzung in Zahlen, mit einem Wort, ihre Digitalisierung.
Anfang der 1960er-Jahre wurden in den USA in dieser Weise Telefonate übermittelt. In Japan befassten sich die Digitalpioniere mit einem anderen Einsatzgebiet. 1967 konstruierte das Forschungsinstitut der nationalen Rundfunkanstalt NHK den ersten PCM-Umsetzer. Dieser speicherte die Daten auf dem Magnetband eines professionellen Videorekorders. Der Modulator umfasste nur einen einzigen Tonkanal; 1969 schufen die NHK-Forscher aber mehrere Nachfolger mit zwei Kanälen. Sie konnten jetzt Stereotöne aufzeichnen.
Die japanische Firma Denon baute Geräte der Unterhaltungselektronik; sie produzierte außerdem Schallplatten. 1969 entlieh sie einen NHK-Abtaster und testete ihn gründlich. Dazu gehörten auch Sessions im Studio mit Musikern. Sie führten zu zwanzig Aufnahmen, von denen zwei in die Läden kamen. Dabei musste man die digitalisierten Schallwellen vor der Pressung der Vinylscheiben wieder in analoge Signale zurückverwandeln. Denn die Tonabnehmer und Verstärker bei den Hörern arbeiteten damals noch nicht digital.
Im Februar 1971 erschien auf dem Denon-Label Something des amerikanischen Jazz-Saxofonisten Steve Marcus; er wurde unterstützt vom Japaner Jiro Inagaki und seiner Band. Auf „Something“ folgte wenig später ein Album des Percussion-Solisten Stomu Yamash’ta. Eingespielt wurden diese LPs bereits am 11. Januar 1971; Marcus betrat das Studio erst am 25. Januar. Wir lassen einmal offen, wer der allererste Digital-Musiker der Welt war.
Denon entwickelte nun eine eigene Puls-Code-Anlage namens DN-023R und setzte sie für weitere Titel ein. Mit ihr entstand im Dezember 1974 die erste Digitalplatte in Deutschland, die Orgelmeisterwerke von Johann Sebastian Bach. Die Orgel erklang in der Stuttgarter Gedächtniskirche, Organist war Helmuth Rilling. 1977 stellte Denon das mobile System DN-034R vor. Im gleichen Jahr brachte Sony mit dem PCM-1 den ersten PCM-Umsetzer für private Nutzer heraus. Zum Speichern schloss man einen Sony-Betamax-Rekorder an.
Schon 1975 betätigte sich in den USA die Audiofirma Soundstream; Gründer war Thomas Stockman, Ingenieurprofessor an der Universität von Utah. 1976 nahm sie eine moderne Oper in Santa Fe auf. Die erste mit Soundstream-Technik erzeugte LP kam 1978 heraus; verantwortlich war das Label Telarc in Cleveland. 1978 richtete der Technologiekonzern 3M ein PCM-Studio in Minneapolis ein. Eine dort erstellte Kammermusik-Platte mit Stücken von Aaron Copland und Charles Ives gewann 1980 einen Grammy, den Oscar der Musikwelt.
Auch die Plattenfirma Decca legte sich eine PCM-Ausrüstung zu. Am 1. Januar 1979 nahm sie einen Blockbuster auf, das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker. Die Strauß-Fans halten die Doppel-LP hoch in Ehren, denn es war der letzte Neujahrsauftritt von Dirigent Willy Boskovsky. Der Musikkritiker von Classics Today fand den Digitalklang nicht so schön und tadelte auch den mitgeschnittenen Applaus. Decca lernte schnell und legte noch 1979 einen grandiosen digitalen Dvořák vor, die bekannte Sinfonie Aus der neuen Welt.
Wir wollen die neue Welt der Digitalplatten nicht klassisch beenden, sondern mit Rockmusik. Im Juli 1979 nahm der amerikanische Sänger und Gitarist Ry Cooder in Los Angeles die Platte „Bop Till You Drop“ auf; die Hardware stammte von 3M. Das Album kombinierte Puls-Code-Modulation mit der aus Rock und Pop vertrauten Mehrkanaltechnik. Dieser Link führt zum erfolgreichsten Track, dem Cover von Elvis Presleys Little Sister.
Für Audiophile und alle, die es gewesen sind: Hauptquellen unseres Blogbeitrags sind ein informativer Artikel von Thomas Fine aus dem Jahr 2008 sowie die englische Wikipedia. Weitere Details von einem Hifi-Fan in Polen stehen hier. In deutscher Sprache findet sich etwas zum Thema im Hifi Museum. Die Geheimnisse des Wiener Neujahrskonzerts werden schließlich vom Berliner RONDO-Magazin enthüllt.
Interessant. Wieder was gelernt und wie immer wunderbar mit Links und Medien unterlegt. Am Anfang stellt sich aber die Frage, wie sinnvoll hier die Verwendung des Wortes „digital“ ist. Die Unterscheidung zwischen digital und analog geht auf die Macy-Konferenzen in den späten 1940er-Jahren getroffen. Damit wird mechanische Technik zu beschreiben verweist meines Ermessens auf eine andere Wortbedeutung, die aber wiederum nahtlos in eine Reihe mit elektronischer Technologie gestellt wird. Wie sinnvoll ist es, hier von „Digitalisierung“ zu sprechen?