Löcher im Streifen
Geschrieben am 05.05.2020 von HNF
Heute befördern wir Daten auf CD oder im USB-Stick. Früher nahm man dazu Magnetbänder und Lochkarten; später kamen Magnetkassetten und Disketten hinzu. Außerdem gab es die Lochstreifen. Sie brauchten wenig Platz und ließen sich zusammenrollen; zur Not waren sie mit bloßem Auge lesbar. Auch die größte Softwarefirma der Welt verkaufte ihr erstes Produkt in Papierform.
„Ein Loch ist da, wo etwas nicht ist.“ Das schrieb Kurt Tucholsky 1931 in dem Aufsatz „Zur soziologischen Psychologie der Löcher“. Wo nichts ist, können aber noch Daten sein. Das erkannte bereits 1725 der französische Weber Basile Bouchon. Er programmierte seinen Webstuhl mit einer breiten Bahn gelochten Papiers. Die Technik wurde im 19. Jahrhundert von Joseph-Marie Jacquard perfektioniert.
In den 1830er-Jahren erfanden Charles Babbage und Semjon Korsakow die Lochkarte für wissenschaftliche Daten. Der schottische Uhrmacher Alexander Bain benutzte ein Jahrzehnt später einen gelochten Papierstreifen bei der Telegrafie. Ab 1870 entwickelte der Franzose Émile Baudot sein Fernschreibsystem. Er stellte Buchstaben, Ziffern und Zeichen mit fünf Bit dar. Entsprechend wurden bis zu fünf Löcher quer in einen Papierstreifen gesetzt. 1932 führte der Baudot-Code zum Internationalen Telegrafenalphabet Nr. 2 oder CCITT-2-Code.
1941 nahm Konrad Zuse in Berlin seinen ersten Computer in Betrieb, die Z3. Auch er nutzte einen Lochstreifen, jedoch nicht aus Papier, sondern aus gebrauchtem 35-Millimeter-Film. Das Zelluloid nahm das Rechenprogramm auf; pro Zahl und Zeichen wurden bis zu acht Löcher perforiert. Beim Modell Z4 von 1945 behielt Zuse das Prinzip bei. 1953 lieferte die Zuse KG den Relaisrechner Z5 an die Firma Leitz. Er verwendete Film- und Papierstreifen mit zehn Lochplätzen. Einige von ihnen enthielten Unterprogramme.
Der amerikanische Computerpionier Howard Aiken griff 1944 beim Mark I zu Streifen mit 24 Plätzen. In England begnügte man sich mit den fünf Bit der Fernschreiber. Das sehen wir in dem Film, der 1951 mit dem Elektronenrechner EDSAC gedreht wurde. Ab Minute 5:30 geht es um Lochstreifen und was man mit ihnen macht. 1958 zeigte der Hessische Rundfunk Konrad Zuse in seiner Firma, die mittlerweile in Bad Hersfeld ansässig war. Aus dem Stanzer seiner Z11 strömte ganz ähnliches Papier, siehe Minute 5:50. Mit ein paar Tricks wurden darin deutsche Worte eingeprägt.
Der Lochstreifen entwickelte sich zur Standardtechnik für das Speichern von Programmen. Neben dem Baudot-System etablierte sich ab 1963 eine Perforierung mit acht Lochplätzen. Sie basierte auf dem ASCII-Code mit sieben Bit, zu denen ein Prüfbit kam; es diente zum Aufspüren von Übertragungsfehlern. Die Abkürzung ASCII steht für American Standard Code for Information Interchange. Die Streifen wurden nicht nur aufgerollt, sondern ebenso mit der Zickzack- oder Leporello-Faltung zusammengelegt.
Als begleitende Hardware lieferte die Industrie Stanz-, Lese- und Vergleichsgeräte. Ein Spitzenprodukt war der RC 2000 der dänischen Computerfirma Regnecentralen. Der Leser kam 1963 auf den Markt und bewältigte fünf Meter Lochstreifen pro Sekunde; das entsprach zweitausend Zeichen. Das Nachfolgemodell RC 2500 schaffte sogar 2.500 Zeichen. Weltweit konnten die Dänen 1.500 der superschnellen Geräte absetzen. In der Bundesrepublik wurden sie von der Computer Gesellschaft Konstanz als LSL 195 verkauft.
Lochstreifen finden wir dann auch in der Mikrocomputerwelt. Ende 1974 und Anfang 1975 schrieben Bill Gates und Paul Allen in acht Wochen ein Programm für die Sprache BASIC; es war für den neuen Acht-Bit-Rechner Altair gedacht und umfasste vier Kilobyte. Im Februar oder März 1975 – die Quellen sind nicht einheitlich – flog Allen mit einem Lochstreifen zum Altair-Hersteller MITS in New Mexico. Im Flugzeug fiel ihm noch eine letzte Verbesserung des Programms ein. Die Vorführung bei MITS-Chef Ed Roberts verlief erfolgreich.
Altair-BASIC war das erste Produkt der von Bill Gates und Paul Allen gegründeten Firma Micro-Soft. Ausgeliefert wurde es als Lochstreifen und auf Kompaktkassette, später auch auf Disketten. Aus Micro-Soft wurde Microsoft, das bekanntlich bis heute existiert. Lochstreifen gibt es nur noch bei Sammlern alter Computer, im HNF und beim Dichter Hans Magnus Enzensberger: „Lochstreifen flattern vom Himmel / Es schneit Elektronen-Braille / Aus allen Wolken / fallen digitale Propheten“
Erwähnen müssen wir aber noch – tief Luft holen – die Datenverarbeitungsorganisation der Steuerbevollmächtigten für die Angehörigen des steuerberatenden Berufes in der Bundesrepublik Deutschland, kurz Datev. Ab 1966 stanzten ihre Mitglieder die Steuerdaten in Papierstreifen; dazu dienten Buchungsmaschinen vom Typ Olivetti 1731. Die Lochstreifen wurden per Post ans Datev-Rechenzentrum in Nürnberg geschickt und dort auf Magnetband übertragen. Im Foto unten erkennte man in der Mitte den schnellen Leser aus Dänemark. Der Absender erhielt wieder per Post die ausgedruckten Resultate des IBM-Computers.
Unser Eingangsbild stammt wie das der Glühbirne aus den 1960er-Jahren. Es zeigt den Lochstreifenleser der Siemens 2002 aus dem Berliner Hahn-Meitner-Institut. Die Bilder nahm Gerhard Ploch auf, der dort tätig war; er ist leider letztes Jahr gestorben. Wir danken Eva Kudrass (Berlin) und Gabriele Sowada (Kiel) für die Fotos und dem Helmholtz-Zentrum Berlin für die Erlaubnis, sie im Blog zeigen zu können. Bei Professor Horst Zuse möchten wir uns für das Z5-Foto bedanken.
Die optische Leseeinheit der Colossus verarbeitete Lochstreifen mit für damalige Verhältnisse unglaublichen 5.000 Zeichen (à 5-Bit) pro Sekunde. Hierzu wurde ein komplexes – “bedstead“ (Bettgestell) – genanntes System von Umlenkrollen benötigt, das die Zugspannung der sich mit 12m/s (!) bewegenden Lochstreifen regulierte, d.h. diese vor dem Zerreißen bewahrte. Wer weiß, wie man so ein „Bettgestell“ konzipiert ??