Die Geburt der Computerkunst

Geschrieben am 23.08.2022 von

Am 28. August 1962 schrieb der Ingenieur Michael Noll eine Notiz für das Archiv der Bell-Laboratorien. Sie enthielt von einem IBM-Rechner erzeugte Grafiken, die ein Drucker zu Papier brachte. Mit Nolls Programmen begann die digitale Computerkunst. Der junge Amerikaner und die deutschen Informatiker Georg Nees und Frieder Nake, die „Drei N“, waren Pioniere jener Kunstform.

„Mit einem Digitalrechner IBM 7090 und einem Mikrofilm-Drucker Stromberg-Carlson 4020 wurde eine Serie interessanter und neuartiger Muster erzeugt. Dieses Papier beschreibt die mathematischen und programmiertechnischen Verfahren, nimmt aber keine Stellung zum ‚künstlerischen‘ Wert der Resultate.“

So begann das Memorandum Nr. 38.794-23, das A. Michael Noll am 28. August 1962 in den Bell-Laboratorien verfasste. Es zählte fünfzehn Seiten und trug den Titel Patterns by 7090. Die Zahl bezeichnete eine IBM-Anlage, die in den Laboratorien im US-Bundestaat New Jersey stand, die „Patterns“ meinten acht Zeichnungen, die Noll darauf programmiert hatte. Sie wurden in dem kleiderschrankgroßen Drucker auf einer Bildröhre angezeigt, abfotografiert und auf Mikrofilm und Papier festgehalten. Die acht Blätter waren die ersten Kunstwerke, die aus dem Computer kamen.

Michael Noll – das A. lassen wir ab jetzt weg – wurde am 29. August 1939 in Newark nahe New York geboren. Der Vater war Maschinist und Zimmermann, die Mutter Sekretärin. Noll erwarb den Bachelor in Elektrotechnik an der lokalen technischen Hochschule und ging anschließend zu den Bell-Laboratorien, dem Forschungszentrum des Telefonkonzerns AT&T. Es lag nicht weit weg im Ort Murray Hill. Dort arbeitete Noll in den nächsten Jahren; parallel dazu konnte er sein Studium fortsetzen und den Master und den Doktor machen.

Die IBM 7090 wurde ab 1959 an Kunden geliefert.

Im Sommer 1962 beschäftigte sich der Ingenieur mit der Grundfrequenz des menschlichen Sprechens. Für grafische Darstellungen verwendete er die erwähnte IBM 7090 und den angeschlossenen Stromberg-Carlson-Drucker. Wenn man bei der Eingabe nicht aufpasste, produzierte dieser ein Wirrwar aus Linien. Als ein Kollege scherzhaft von Computerkunst sprach, kam Noll der Geistesblitz . Er schrieb kleine Fortran-Programme, die zu Mustern führten, setzte einen Text vor die „Patterns“ und gab das Ganze ans Archiv. Unser Eingangsbild weist einem ähnlichen Stil auf; es wurde von Gerd Altmann programmiert.

Michael Nolls Grafiken waren nicht die ersten künstlichen Kunstwerke. In den 1950er-Jahren stellten der Amerikaner Ben Laposky und der Österreicher Herbert W. Franke Oszilloskope so ein, dass sie abstrakte Gebilde anzeigten. 1960 fertigten der Physiker Cord Passow und der Künstler Kurd Alsleben Zeichnungen mit einem Analogrechner des Forschungszentrums DESY in Hamburg an. Zur gleichen Zeit baute der Ingenieur Raymond Auger in New York einen malenden Roboter, der mit Lochstreifen gespeist wurde. Noll war aber der erste Schöpfer digitaler Kunst.

Nach den ersten acht Computergrafiken programmierte Michael Noll Nachahmungen von existierenden Werken, etwa eines Strich-Gemäldes des Holländers Piet Mondrian. Die Wellen der englischen Op-Art-Künstlerin Bridget Riley brachten ihn zu einem Bild von Sinuskurven. 1965 erstellte er Animationen von 3D-Objekten und -Szenen. Dabei zeichnete der Computer eine Folge von Bildpaaren, zum Beispiel eines rotierenden Hyperwürfels. Noll war nicht der einzige Kunstproduzent der Bell-Laboratorien; 2014 schilderte er die kreative Szene von Murray Hill in einem Artikel.

Nachprogrammierung einer Michael-Noll-Grafik von Jörg Kantel  CC BY-NC-ND 2.0

Michael Nolls Geniestreich von 1962 blieb allerdings unveröffentlicht. Im Blog beschrieben wir bereits, wie die Zeitschrift computers and automation 1963 die Idee der Digitalkunst verbreitete und Konrad Zuse ein Jahr später darüber einen Vortrag hielt. Im Februar 1965 fand in Stuttgart die früheste Ausstellung mit künstlerischen Computerbildern statt. Die Studiengalerie der Technische Hochschule zeigte Werke nach Programmen von Georg Nees. Die Muster von Michael Noll erschienen erst im April 1965 in einer Galerie in New York.

Noll saß bis 1971 in den Bell-Laboratorien, danach arbeitete er zwei Jahre lang im Büro für Wissenschaft und Technik des US-Präsidenten in Washington. Ab 1973 war er wieder für die Bell Labs tätig sowie für die Mutterfirma AT&T. 1984 wechselte Noll an eine Hochschule für Kommunikation in Los Angeles; dort befindet sich auch seine umfangreiche Homepage. 2006 ging er in Pension. Mit Georg Nees und Frieder Nake bildete er das Gründertrio der digitalen Computerkunst, die „Drei N“ oder „3N“.

Wir schließen mit zwei Filmen, die um 1965 in den Bell-Laboratorien entstanden. Der erste stammt von Kenneth Knowlton, der im Juni mit 91 Jahren verstarb; es schildert die Produktion von Computeranimationen. Der zweite zeigt Michael Noll und ein von ihm programmiertes Ballett mit Musik von Igor Strawinsky. Das Video ist zweidimensional; Noll erstellte aber auch eine 3D-Version. Doppelbilder daraus – eines fürs linke und eines fürs rechte Auge – verwahrt das MoMA in New York. Sie sind unter diesem Text zu sehen.

(C) A. Michael Noll, Museum of Modern Art New York          http://www.moma.org

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